Helene Fischer in Zürich: In ihren besten Momenten ist sie weit weg vom Ballermann

Helene Fischer in Zürich: In ihren besten Momenten ist sie weit weg vom Ballermann

Fünf Abende nacheinander füllt die deutsche Schlagersängerin mit ihrem Liebeszirkus das Hallenstadion. Was Barbie, ein 112 Meter langes Kleid und «eine sanfte Hirnspülung» damit zu tun haben.

Wer Helene Fischer parodieren will, macht am besten ein Mindmap. In der Mitte steht das Wort LIEBE, feuerrot markiert. Von da aus wachsen Äste: Herz. Feuer. Achterbahn. Galaxie. Je pathetischer und floskelreicher die Liebe beschrieben wird, desto besser. Wenn es schon kitschig ist: ungeniert nochmals steigern.

Aber um den Text geht es bei Helene Fischer gar nicht. Das sagt zumindest Bertschy Erwin, so stellt er sich vor. «Der Inhalt der Songs ist zweitrangig», sagt der 55-Jährige aus Tafers im Kanton Freiburg. Vor dem Konzert am Dienstagabend stützt er sich auf einem Strassenpoller vor dem Zürcher Hallenstadion ab und wartet.

Bald wird Bertschy Helene Fischer in einem 112 Meter langen roten Kleid singen sehen, das dank Luftdüsen wallt. Er wird die erfolgreichste deutsche Musikerin immer wieder «ihr Lieben» zu ihm und dem Publikum sagen hören. Und er wird vielleicht leise «Herzbeben, lass uns leben» mitsingen.

Gleich fünfmal spielt Helene Fischer in dieser Woche im Hallenstadion. Das schafft nur sie.

Selina Vogel, Mentalcoach aus dem Emmental, trinkt Prosecco aus der Dose und sagt: «Wenn du dich nicht von Helenes Leichtigkeit mitreissen lassen kannst, dann fehlt dir wirklich etwas.» Typisches Brunch-im-Ausflugsrestaurant-Publikum. Wer unter 30 ist, begleitet oft die Eltern. Die Musik von Helene Fischer sei nicht ihr «Vibe», sagt Seklehrerin Tamara Eichenberger. Ihre Mutter liebt hingegen Schlager. «Und auch zu Gölä würde ich rennen.»

Überall hängt Werbung

Helene Fischer läuft nicht auf die Bühne. Sie fliegt. Als die Show startet, sitzt sie in einer Art UFO an der Decke und singt eine Ballade. Rote Tücher fallen. Mit einer Seilwinde landet sie. «Die Welt steht still», singt Fischer. «Und der Himmel bricht a-a-a-a-auf.» Rauch. 5000 Scheinwerfer. 30 Akrobatinnen und Tänzer des Cirque du Soleil mit einer perfekten Choreografie.

Dann ihr Song «Fehlerfrei». «Keiner ist fehlerfrei! Was ist denn schon dabei?» Sekte? Pädagogische Hochschule? Werbekampagne einer Krankenkasse? «Das ist euer Abend, ihr Lieben», sagt Helene Fischer. Nun: Nicht nur, es ist vor allem auch ihrer. Nur schon mit den über 45’000 verkauften Tickets verdient sie an den fünf Shows in Zürich Millionen. Und überall im Hallenstadion hängen die Logos ihrer Werbepartner.

Laut «Forbes» gehört Helene Fischer zu den Top 10 der bestverdienenden Musikerinnen weltweit. Sie wurde im sibirischen Krasnojarsk geboren, zog mit ihren Eltern im Alter von drei Jahren nach Rheinland-Pfalz. Mit 16 Jahren besuchte sie die Musicalschule in Frankfurt. Ihre Mutter schickte Demos mit Coversongs an Labels. Eigentlich wollte Helene Fischer Popstar werden, doch ein Schlagermanager nahm sie unter Vertrag. Dorffest. Supermarkteröffnung. Dann, 2014: ihr Hit «Atemlos durch die Nacht».


Doch den spart sie sich in Zürich noch auf. «Volle Kraft voraus.» 14 Personen helfen Helene Fischer mit ihrem 112-Meter-Kleid. Ein bisschen jugendfreier Sex («spür 100’000 Explosionen»). Ein bisschen Lokalkolorit (Helene liebt «Züricher Geschnetzeltes»). Und ein Selfie mit einer Frau, auf deren Plakat steht, dass sie schon mehr als 400 Fischer-Konzerte besucht habe.

Manchmal fühlt sich die Helene-Fischer-Show wie eine Messe für Stadiontechnik an. Plötzlich wird ein Teil der Bühne zum Hebekran. Bei ihrem Song «Rausch» singt die 39-Jährige in einem Ring aus Feuer, der sich dimmen lässt. «Rausch» ist der Name ihrer Tournee und der Titeltrack des neusten Albums.

Eine «sanfte Hirnspülung»

Die deutschen Medien haben dieses zerrissen. Ein «semantischer Pudding» und eine «sanfte Hirnspülung», machte der «Spiegel» aus. Die «Süddeutsche Zeitung» schlug einen Deal vor. Fischer solle aufhören, Musik zu machen und dafür Bundeskanzlerin werden. Wären die Deutsche Bahn und die Verwaltung so diszipliniert, modern und ideal organisiert wie die Schlagersängerin, könnte in Deutschland nichts mehr schiefgehen.

Das Musikmagazin «Rolling Stone» hat Oasis-Sänger Noel Gallagher kürzlich ein Stück von Helene Fischer vorgespielt. «Gott, können wir das ausschalten?», fragte dieser und sprach von Popmusik, die nichts bedeute, nur um sich dann zu erkundigen, wer diesen Song geschrieben habe. «Das war garantiert nicht diese Helene Fischer», sagte Gallagher. «Das waren ein paar Typen in meinem Alter, die zu fett sind, um Rockstars zu sein, die eine Glatze haben und Scheisssongs schreiben.»

Tatsächlich finden sich in den Credits der Songs von Helene Fischer oft ganz viele Namen von Songwriterinnen und Songwritern: Kristina Bach, Martin Fliegenschmidt, Jean Frankfurter. Auf der Bühne im Hallenstadion sagt Helene Fischer, dass sie für das neue Album zum ersten mal selber mitgetextet habe. Sie klingt jetzt wie eine Schülerin am Elternabend.

Eine Art Barbie für Erwachsene

Wo vorher Feuer war, sind jetzt 3000 Liter Wasser. Auch dieses lässt sich dank 800 Düsen zu ganz unterschiedlichen Mustern dimmen. Thomas Seitel, der Mann der Sängerin, läuft oben ohne auf die Bühne. Helene Fischer berührt seine Brust, dann heben beide mit einem Trapez ab, Hand in Hand, gen Stadiondecke. Liebe funktioniert immer. Fischer ist jetzt eine Art Barbie für Erwachsene, in die sich alles projizieren lässt. Und sie ist ja eine von uns. Wir können alle sein wie sie. Diese Illusion verkauft sie zumindest. 

Und auch bei Helene Fischer läuft nicht alles perfekt. Im März brach sie sich bei den Proben eine Rippe und musste den Start der Tour verschieben. Im Juni zog sie sich auf dem Trapez eine Platzwunde oberhalb der Nase zu. 

Nach der Pause der mehr als dreistündigen Show kommt der Moralteil. Auch das kann Helene Fischer: Eineinhalb Stunden die Heteronormativität zelebrieren, immer nur Frauen mit Männern tanzen lassen – und dann einen Regenbogen ins Hallenstadion projizieren. «Bussi. Fühlt euch alle umarmt und geliebt von mir», sagt sie, singt dann über Eltern, die ihr Kind zur Kita bringen. «Sie und sie tragen jetzt den gleichen Ring. Alles ganz normal.»

Später fliegt sie im «Päckli» übers Publikum, singt dabei mit einer Art Callcenter-Mikrofon über die Probleme auf der Welt und hat auch eine Antwort bereit: natürlich die Liebe, ihr Leitmotiv. Die Querdenker-Szene hat den Song «Wann wachen wir auf» mal als Hymne abgefeiert. Doch Helene Fischer lässt sich nicht politisch vereinnahmen. Sie ist für «ihre Lieben» da (und kann so auch weiterhin allen ihre Tickets verkaufen). 

Als endlich der Beat von «Atemlos» erklingt, nach 23 Uhr, stehen viele von ihren Sitzplätzen auf. Und ja, irgendwie euphorisiert dieser Megahit. In ihren besten Momenten ist Helene Fischer weit weg vom Ballermann und nahe bei Nina Chuba. Im Hallenstadion steht sie jetzt auf ihrer persönlichen Achterbahn, ein Roboterarm, der sie hin und her wirbelt. Sogar jetzt nach mehr als drei Stunden Choreografie und Akrobatik trifft sie scheinbar jeden Ton und strahlt.

Dann: Schnee in Form von Papierfetzen. Noch einmal Rauch. Noch einmal Feuer. Das Podest hebt Helene Fischer so hoch wie noch nie an diesem Abend. Sie räkelt sich und fährt sich immer wieder durch das blonde Haar. Dann geht sie von der Bühne.

Sie läuft nicht. Sie versinkt im Stadionboden.

Text im Tages-Anzeiger