Der Kantönligeist nervt und zwingt mich doch zur Frage: Wo bin ich zu Hause?

Der Kantönligeist nervt und zwingt mich doch zur Frage: Wo bin ich zu Hause?

Ein Ostschweizer besucht mit Zünftern und Zürcherinnen die Messe in St.Gallen. Zwischen den Städten liegen nur 60 Kilometer. Eigentlich.

Seinen Ritterhelm hat Zünfter Arik Gabay auf den Zugtisch neben den Sprüngli-Sack gestellt. Er trägt Kettenstrümpfe aus Wolle, checkt den Regenradar und sagt: «St. Gallen ist ein Nebelloch.» Einen thurgauischen «Öpfel-Vibe» habe die Stadt im Osten. Und einen komischen Dialekt. 

Gabay (29), Zürcher Banker, sagt das, obwohl er in den letzten zehn Jahren nur einmal in St. Gallen war, zum Znacht mit einem Kollegen, der an der HSG studierte. An der Wirtschafts-Uni hat auch David Wille studiert, der ihm gegenübersitzt und ebenfalls den Rüden der Gesellschaft zur Constaffel auf der Brust trägt. «Der Kantönligeist macht doch die Schweiz aus», sagt er. Im alten St. Galler Stadion, dem Espenmoos, sei er mal an einem GC-March gewesen. Die Zürcher Fans hätten ein Banner hochgehalten, auf dem stand: «Mir gäbed zuä, mir sind alli arrogant. Ihr gäbed zuä, ihr sind alli vom Land.»

Zürich und St. Gallen. 63 Kilometer Luftlinie auseinander, 57 Minuten im Zug, 15.50 Franken mit dem Halbtax – und für viele trotzdem Welten entfernt. 


Hektik und überforderndes Trommelgeschepper schon um 7 Uhr morgens auf dem Gleis 18 im Zürcher Hauptbahnhof. Christoph Blocher, Arik Gabay und Mitglieder einer indischen Tanzgruppe wollen sich vor der Abfahrt einen Sprüngli-Frühstück-Sack schnappen. Sie alle und viele mehr reisen am Samstagmorgen mit dem Sonderzug nach St. Gallen, weil Zürich Gastkanton an der Ostschweizer Landwirtschaftsmesse (Olma) ist. Über 1400 Zürcherinnen und Zürcher nehmen später an einem Umzug teil.

Beide Städte haben Grössenwahn

Der Unterschied zwischen Zürich und St. Gallen lässt sich gut am Sprüngli-Sack erklären. Die blau-weisse Schnörkelschrift strahlt Eleganz aus. In der Edelconfiserie am Paradeplatz gibt es die Himbeer-Patisserie für 10.50 Franken, das Mittagsmenü heisst hier Lunch und kostet 42 Franken. Im St. Galler Pendant – dem Gschwend – sind das Logo und das Interieur bieder, und alles ist halb so teuer. Schmecken tut es trotzdem. Und auch Handwerker kehren am Mittag ein.

Und doch haben St. Gallen und Zürich das gleiche Problem: Sie wollen grösser und wichtiger sein, als sie sind. St. Gallen sei «eine verhinderte Weltstadt», die sich «im Würgegriff von einer Million Bauern befindet», sagte der Theaterautor Milo Rau dem Kulturmagazin «Saiten». Und Zürichs alte Werbeslogans «Little Big City» und «Downtown Switzerland» zeugen auch nicht von weniger unerfülltem Grössenwahn. Kurz: St. Gallen will Zürich und Zürich will New York sein. Beide sind es nicht.

Der Zürcher als Krokodil

Vor dem WC im Sonderzug liegt eine tote Wildsau. Zünfter werden sie später durch St. Gallen tragen.

Andreas Neurohr, Disponent bei den VBZ und in der Zunft zur Letzi, sagt: «Zürcher sind, was die Deutschen in Europa sind.» Es gebe «en Huufe», und darum gingen sie halt auch mal auf den Wecker. Seinem Kollegen Remo Rosenau, Finanzanalyst, fällt dazu ein Spruch ein: «Neid und Missgunst musst du dir hart erarbeiten. Mitleid bekommst du gratis.» Sie wollen beide in Altstetten und Albisrieden alt werden. 

Auch Zünfter Arik Gabay, 30 Jahre jünger, sieht sich in Zürich. Wer dort aufwachse, habe einen engen Blick, das sei «safe» so, «100 Prozent». Er frage sich manchmal, wieso es so schwer sei, neue Leute kennen zu lernen, und merke dann, dass er selbst mit seinen Freunden ja auch in Ruhe gelassen werden wolle. Sein Zunftkollege David Wille sagt: «Als Zürcher werde ich in der Schweiz nicht überall mit offenen Armen empfangen.» Das bekomme er manchmal schon zu spüren, und es führe dazu, dass er sich noch stärker isoliere. «Ein Teufelskreis.»

Wil zieht vorbei, Flawil, Uzwil. «Sind wir jetzt da?», fragt eine Frau einer indischen Tanzgruppe, als der Sonderzug Gossau passiert. Starbucks-Becher mit Lippenstiftabdrücken stehen auf ihrem Tisch. «We are ready für eine Überraschung.»

Unten im Zug fragt eine Mutter ihre Tochter, ob sie den Witz noch mal erzählen könne. «Ein Vogel, ein Fisch und ein Krokodil besprechen ihre Ferienpläne. Sagt der Vogel: Ich kann fliegen, darum fliege ich in den Süden. Sagt der Fisch: Ich kann schwimmen, darum schwimme ich ans Meer. Sagt das Krokodil: Ich habe eine grosse Klappe, also gehe ich nach Zürich.»

Dann fährt der Zug unter dem Schild der Schokoladenfabrik Maestrani ein. St. Gallen.

Abstossende St. Galler Imagefilme

Zünfter fahren auf Hochrädern über den Bahnhofplatz. Arik Gabay mit dem Helm bekommt sein Nebelloch und sogar noch Nieselregen.

Im Rathaus gibt es Lachs-Canapés vom Gschwend für die Ehrengäste. Christoph Blocher lobt die St. Galler. «In Bern macht die Westschweiz die hohle Hand. Die Ostschweiz ist immer still und tüchtig», sagt er und lacht. Eine Fluse hat sich in seiner Brille verfangen. Dann sagt der Alt-Bundesrat: «D Sprach händ sie aber au immer no.»

Stimmt. Zum ersten Mal so richtig allein nach Zürich gefahren bin ich anfangs Kanti, so nennen die Ostschweizer das Gymi. Wir tranken billigen Weisswein im Zugabteil und machten uns am Konzert des britischen Produzenten Bonobo im Kaufleuten über die Baumwollhandtücher auf der Toilette lustig. Wir fanden Zürich unsympathisch und spannend. Viel weiter als zur Bahnhofstrasse kamen wir nicht. 

Heute zählen mich die Marketingspezialisten der St. Galler Standortförderung zur Zielgruppe «Heimweh-St. Galler:innen». 400’000 Franken hat die Stadt für eine Kampagne ausgegeben, um mich und andere zurückzulocken und jene, die hier leben, zu binden. Denn allein im letzten Jahr zogen 186 St. Gallerinnen in den Kanton Zürich. Diesen als Olma-Gastkanton zu küren, ist dementsprechend auch eine widersprüchliche Wahl. Es sollen ja nicht noch mehr angelockt werden!

In den PR-Videos der Kampagne präsentiert sich St. Gallen als Stadt mit VR-Brillen, Lastenrädern und Konzerten. Designerin Alex schwärmt vom Schrebergarten und Velokurier und Yoga-Lehrer Dimitrij vom «quirligen Linsebühl-Quartier». Mit einem Bus fuhr die Standortförderung sogar auf den Zürcher Maag-Platz und servierte Schützengarten Bier. 

Solche Aktionen stossen ab, weil das eigene Heimatgefühl nicht skalierbar ist. Mein St. Gallen ist in der Grabenhalle am heiligen Abend nach Mitternacht Rundlauf spielen und mit dem Snowboard von der Solitüde – einem Hügel – durch den Tiefschnee fahren.

Eine gleiche Anmassung ist es, an einer Messe wie der Olma den ganzen Kanton Zürich repräsentieren zu wollen. Der grüne Zürcher Baudirektor Martin Neukom hält im St. Galler Rathaus einen zerknitterten Gschwend-Pappbecher in der Hand und sagt: «Das moderne Zürich wird hier nicht gezeigt.» Er fühle sich nicht unwohl, «aber ein bisschen wie an einem Fasnachtsumzug». 1,9 Millionen Franken aus dem gemeinnützigen Fonds hat der Kanton Zürich für den Auftritt an der Olma bewilligt. Er würde den Effekt nicht überbewerten, sagt Neukom.

Eine Sau namens «Infulenzer»

Das Zürcherischste auf dem Olma-Messegelände ist die neue Halle. 12’000 Personen finden darin Platz, ein Siebtel der St. Galler Bevölkerung. Für die verschuldeten Olma-Messen und für die Stadt ist das ein Monsterprojekt. 

Eine Frau mit Callcenter-Mikrofon stellt den neuen Thermomix vor, ein Mann erklärt auf einer Strohbühne, was es bedeutet, wenn eine Kuh mit den Ohren wackelt (es geht ihr gut). Eine elektrische Tierbürste ist zum Aktionspreis von 2950 Franken zu haben. Und die Sauen, die am Nachmittag beim Rennen teilnehmen, heissen «Specktakel», «Infulenzer», «Böööög» und «Wiiichser». 

Das Zürcherischste im sogenannten «Familie Zürchers Garten» ist das Kompotoi, dieses biologische WC, das auf vielen öffentlichen Plätzen in der Stadt steht. «Eusi Tier» steht auf einem grossen Plakat – und dies wird manchen St. Galler stören (es heisst doch hier «üsi»). Das ist banal, aber es geht um etwas gar nicht Banales: Identität.

Ich mag, dass es in Zürich statt drei dreissig schöne Cafés gibt und dass am Montag sieben statt null Bands Konzerte spielen: ein Leben im Maximum, was die Schweiz an Downtown hergibt. Und eine Ahnung von Grossstadtanonymität. 

Und doch habe ich in der Sek manchmal Bürli von Gschwend gekauft und nichts Luftiges von Sprüngli. Eine warme Bratwurst fühlt sich für mich nach Zuhause an (da haben mich die PR-Strateginnen erwischt). Und vor allem die Musik vom Manuel Stahlberger.

In einem seiner Songs fragt er: «Isch Heimat e Gfühl? Oder isch es echt en Ort?»

Text im Tages-Anzeiger