Bryce Dessner von The National im Interview: «Ich hatte damals eine schwierige Zeit mit meiner Familie»

Bryce Dessner von The National im Interview: «Ich hatte damals eine schwierige Zeit mit meiner Familie»

Er wurde mit The National bekannt und produzierte schon für Taylor Swift. Jetzt führt Bryce Dessner in Zürich ein klassisches Werk auf, das er in einem traumatischen Moment schrieb. Ein Gespräch.

Herr Dessner, Sie sind Rockgitarrist und komponieren klassische Konzerte. Das ist, wie wenn ein Basketballer in der NBA spielt und dann plötzlich auch noch Golfprofi wird, oder nicht?

Nicht ganz. (lacht) Ich komme aus der Klassik. Als Kind habe ich Flöte gespielt. Später habe ich klassische Gitarre und Komposition studiert. Das war alles noch vor The National. Mit einer Band oder einem Orchester zu arbeiten, ist für mich gar nicht so ein grosser Unterschied. Die Sprache ist die gleiche.

Was ist einfacher: ein klassisches Orchesterkonzert zu komponieren? Oder einen Radiohit wie «Fake Empire» zu schreiben, den später Tausende Fans im Stadion und an Festivals mitsingen?

Um ehrlich zu sein: Manchmal finde ich es fast schwieriger, einen kurzen Song zu schreiben.

Weshalb?

Weil Songs gleichzeitig eingängig und komplex sein müssen. «Fake Empire» habe ich in nur fünf Minuten geschrieben, aber das war eine Ausnahme. Gute Songwriterinnen und Songwriter sind für mich grosse Künstler. Doch manchmal gibt es einfach mehr zu sagen, und drei Minuten reichen nicht aus. Ein Song ist für mich wie ein Gedicht, ein Klassikkonzert wie ein Roman.

Sie sind diese Saison «Creative Chair» der Tonhalle Zürich. Das Orchester führt einige Ihrer klassischen Werke auf. Bei «St. Carolyn by the Sea» stehen Sie selbst mit der Gitarre auf der Bühne. Das Stück löst ganz unterschiedliche Gefühle aus: Angst, Euphorie, schliesslich Zögern. Wie würden Sie es beschreiben?

Für mich symbolisiert es die Kraft des Meeres. Es gibt in der Mitte einen Teil, wo die Musik dieses intensive, wellenartige Muster annimmt und einen Höhepunkt für das ganze Orchester aufbaut. Das ist für mich das Gefühl des Pazifischen Ozeans.

Was hat Sie zu diesem Stück inspiriert?

Als Amerikaner stellt sich für mich immer die Frage der Tradition. Klassik ist ja ursprünglich europäische Musik. Die amerikanische Kultur definiert sich für mich am stärksten über die Literatur und die Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Da gab es eine Explosion der Kreativität, die wirklich sehr amerikanisch ist. Autoren wie Allen Ginsberg oder Jack Kerouac beeinflussen mich. Ich habe viel Kerouac gelesen, als ich das Stück «St. Carolyn by the Sea» schrieb.

Würden Sie sagen, Sie haben seine Bücher vertont?

In gewisser Weise, ja. Jack Kerouacs Buch «Big Sur» und besonders das Gedicht «Sea» darin haben mich inspiriert. Es zeichnet dieses Ophelia-hafte Bild einer Frau, die draussen auf dem Meer auf ihren Liebhaber wartet.

Was genau hat Sie an diesem Gedicht berührt?

Ich hatte damals eine schwierige Zeit mit meiner Familie. Es waren traumatische Momente, auf die ich nicht näher eingehen möchte. Aber genau diese Energie spiegelt sich in Karouacs Literatur wider. Mehr noch, diese amerikanischen Autoren entwickelten damals eine besondere Beziehung zur Form – wo die Sprache die Entstehung eines Werks diktiert –, die hat mich über die Jahre immer wieder stark inspiriert.

Jack Kerouacs Roman «Big Sur» schildert die Selbstzerstörung eines Schriftstellers. Können Sie diese nachvollziehen?

Ja. Viele meiner engen Freunde kämpfen mit ihrer psychischen Gesundheit. Als Künstler sind wir zur Kreativität verdammt. Ich muss mich die ganze Zeit fragen, was ich sagen will. Das ist eine sehr verletzliche Position und nicht wirklich gesund.

Würden Sie sagen, dass Sie Ihre besten Klassikstücke und Rocksongs immer dann geschrieben haben, wenn Sie unglücklich waren?

Ich glaube nicht. Nein. Ich muss nicht todtraurig sein, um gute Kunst zu machen.

Wie schützen Sie sich, damit es Ihnen nicht geht wie Kerouac, der es nicht mehr aushielt und sich in Alkohol und Drogen flüchtete?

Ich versuche einen gesunden Weg zu finden, um kreativ zu sein. Ich habe einen sechsjährigen Sohn und eine Frau und bin froh, am Leben zu sein. Und Musikmachen ist zum Glück nicht einsam. Klar, das Komponieren vielleicht. Aber das Schöne ist, dass ein Werk nur existiert, wenn es gespielt wird. Ich kann mit vielen anderen tollen Musikerinnen zusammenarbeiten. Jetzt gerade mit dem Tonhalle-Orchester.

In Ihrer Band The National spielt auch ihr Zwillingsbruder Aaron Dessner. Wie ist es, gemeinsam mit ihm Musik zu machen?

Wunderschön. Wir haben eine telepathische Kommunikation, die so nur in der Familie möglich ist.

Sind Sie sich manchmal nicht zu nah?

Wir haben zum Glück unterschiedliche Zugänge zur Musik, die sich gegenseitig ergänzen. Ich habe mit klassischer Musik angefangen und am Konservatorium studiert, während mein Bruder grösstenteils Autodidakt war und sich jetzt hauptsächlich auf die Produktion und das Songschreiben konzentriert. Wir können beide voneinander lernen und geben uns gegenseitig unseren Freiraum, aber wir arbeiten eben auch sehr oft zusammen – vor allem mit unserer Band.

Der Tonhalle Zürich haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie nicht wirklich gut darin seien, Entscheidungen zu treffen. Ist das Komponieren für Sie nicht wahnsinnig anstrengend?

Zum Glück finden die Entscheidungen meistens ausserhalb des rationalen Gedächtnisses statt. Die Musik sagt mir, wo es hingehen soll. Sie kommt zu mir und nimmt ihren eigenen, poetischen Weg.

Können Sie das genauer erklären?

Ich nenne das natürliche Intelligenz. Wenn ich mit der Band improvisiere oder wir im Studio an unserer Musik arbeiten, geschieht vieles instinktiv. 

Dann hadern Sie mit Entscheidungen eher im Alltag?

Ja.

Wo zum Beispiel?

Meine Frau weiss immer genau, was zu tun ist. Sie sagt dann: «Wir machen das jetzt!» Ich selbst sehe meistens fünf Möglichkeiten.

In Jack Kerouacs Roman «Big Sur» hält der Romanheld die Einsamkeit in der kalifornischen Natur nicht mehr aus, geht in die Stadt und wird in den Kneipen noch viel unglücklicher. Wo fühlen Sie sich wohler: in der Stadt oder auf dem Land?

Definitiv in der Natur.

Weshalb?

Weil ich dort aufgewachsen bin. Wir lebten mit der Familie ausserhalb von Cincinnati am Rande eines riesigen Waldes. Mein Bruder und ich haben diesen erkundet – das sind meine ältesten Kindheitserinnerungen. Wir haben Pfade gelegt und sie benannt. Wir haben eine Art Mythologie mit fantastischen Figuren in diesem Wald entwickelt. Jetzt realisiere ich, dass das wahrscheinlich mein erster wirklich kreativer Akt war. Bevor ich Musiker wurde, war ich Pfadfinder.

Welche Musik haben Sie als Kind gehört?

Ich bin mit Jazz aufgewachsen, weil mein Vater Drummer war. Zu Hause hörten wir Miles Davis und Keith Jarrett. Meine Schwester hat Ballett getanzt, und also gingen wir zu ihren Auftritten. Das waren meine ersten klassischen Konzerte. In meinen Teenagerjahren habe ich dann Sonic Youth und Nirvana kennengelernt.

Als Sie von zu Hause weggingen, sind Sie vom Land in die Stadt gezogen. Richtig?

Ja, ich lebte 15 Jahre in New York und dann 10 Jahre in Paris. Jetzt wohne ich im französischen Baskenland. Wieder am Rand eines alten Waldes. (lacht) Und finde es hier wahnsinnig inspirierend.

Würde Ihre Musik anders klingen, wenn Sie nicht in Ohio, sondern in Zürich aufgewachsen wären?

Ganz bestimmt. Ich weiss nur nicht, wie.

Wie empfinden Sie die Stimmung in Zürich?

Es ist eine spannende Stadt. Die Zürcher Tonhalle ist für mich die schönste Orchesterhalle in Europa. Und ich war im Ballett: Es war toll und sehr progressiv im Vergleich zu New York. Und die Berge sind ja auch nicht weit.

Sie haben dieses Jahr mit The National zwei Alben herausgebracht. Nach den Klassikkonzerten in Zürich gehen Sie auf Tour. Fallen Ihnen diese Wechsel leicht?

Vor zehn Jahren konnte ich ohne Problem switchen. Ich komponierte manchmal sogar im Flieger. Jetzt brauche ich mehr Pausen. Die Shows mit The National dauern fast drei Stunden. Tausende Menschen schauen zu. Das ist sehr intensiv.

Wie können die Fans Ihrer Band The National zu Klassikhörerinnen werden?

Indem sie Klassik live erleben. Es ist so was Emotionales, ein ganzes Orchester in der Tonhalle zu hören. Die Musik saugt dich ein und spuckt dich irgendwo wieder aus. Beethovens Klavierkonzerte, die Musik von Strawinsky, Mahlers Sinfonien oder Musik von Debussy – das sind so schöne Welten. Und es gibt so viel zu entdecken, dass ich Hunderte von Stücken aufzählen könnte, die ich extrem gern mag.

Starten Sie bald noch eine dritte Karriere? Förster? Dichter? Techno-DJ?

Nein. Nein. Ich denke, ich habe genug zu tun.

Text im Tages-Anzeiger