Sie entscheiden, wer den Millionen-Auftrag bekommt

Sie entscheiden, wer den Millionen-Auftrag bekommt

Jackpot oder Frust und Hunderte unbezahlte Arbeitsstunden – für Zürcher Architekturbüros geht es bei Wettbewerben um alles. Als die Jury den Gewinner anruft, schreit dieser: «Altstetten! Sieg!»


Jurypräsident Jeremy Hoskyn stellt sein Handy auf laut. In wenigen Sekunden wird er das Architekturbüro anrufen, das den Wettbewerb gewonnen hat und das Hallenbad Altstetten umbauen darf. Ein Millionenprojekt.

Die ganze Jury hört zu. «Jetzt wird es spannend», sagt eine Architektin. «So einen Anruf bekommst du alle drei Jahre. Oder gar nie.»

Biip. Biip. Biip. Dann: «Für Elise» von Beethoven. Wartemelodie.

«Du steckst so viel Leidenschaft rein», sagt ein Jurymitglied. «Und wenn du verlierst: uff. Ich habe mal 22 Wettbewerbe in Serie verhauen.»

Endlich nimmt jemand ab. «Guten Tag.»

«Sie haben gewonnen. Altstetten», sagt Jeremy Hoskyn.

«Altstetten?» Pause.

«Altstetten! Sieg! Altstetten! Sieg!», hört man den Mann schreien. Dann atmet er auf, sagt zittrig: «Super. Wirklich. Super. Danke vielmals.»

«Wir haben Freude an Ihrem Projekt», sagt Jeremy Hoskyn. «Der Entscheid war einstimmig.»

«Einstimmig! Einstimmig!»

Die Freisprechanlage des Handys überschlägt sich. Die neun Jurymitglieder lachen. Zwei Tage lang haben sie gebraucht, um jenes Hallenbadprojekt zu küren, das die gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Kriterien am besten errfüllt. Sie diskutierten unter der Erde beim Verwaltungszentrum Werd unter anderem über ikonische Rutschbahnen, Barfusszonen und Stauraum für Kinderwagen.

Architekturwettbewerbe haben in Zürich eine über 100 Jahre alte Tradition und sind Teil der Schweizer Baukultur. Sie entscheiden oft, welche Büros die Stadt oder der Kanton für Bauten beauftragen, und geben auch jungen Architektinnen und Architekten eine Chance, sich zu beweisen.

Die Jurierungen sind nicht öffentlich. Obwohl es einen Bericht und eine Ausstellung gibt, interessiert sich die breite Öffentlichkeit oft nur für das Siegerprojekt.

Doch es gibt auch noch eine andere Seite: Architektinnen und Architekten, die oft mehr als 1000 Stunden investieren – und keinen Zuschlag bekommen. Ihre Idee wird nie umgesetzt. Ihre Arbeit nur mit einem Preisgeld oder gar nicht honoriert. Wenn sich Architekturbüros zur Teilnahme an einem Wettbewerb entscheiden, bedeutet das: alles oder nichts.

Das erste Jurytreffen

An einem frühen Morgen Ende Oktober sehen die Jurorinnen und Juroren die zehn anonym eingereichten Projekte zum ersten Mal. Die Jury wird für jeden Wettbewerb nach klaren Regeln neu zusammengestellt.

Diesmal sind es drei Architekten, eine Landschaftsarchitektin, eine Stadtplanerin, zwei Mitarbeitende der Immobilien Stadt Zürich, ein Mitarbeiter des Sportamts und ein Mitglied des Quartiervereins Altstetten. 

Architekturwettbewerbe werden nach den Richtlinien des Schweizer Ingenieur- und Architektenverein SIA durchgeführt. Bevor die Jurierung stattfindet, definieren verschiedene Anspruchsgruppen das Raumprogramm und die Wettbewerbsaufgabe. Alle Architekturbüros, die teilnehmen, haben die gleiche Ausgangslage.

Bei der Jurierung stehen 1:500-Modelle auf Holzpodesten. Visualisierungen sind an Stellwände gepinnt. Welches Büro welches Hallenbad geplant hat, ist nicht ersichtlich. Weil der Wettbewerb anonym stattfindet, tragen die Projekte kuriose Namen: Krokodil, Zweiter Atemzug oder Nougat zum Beispiel. Ein bisschen wie bei einem Grümpelturnier. 


Die Jurymitglieder schnappen sich Ikea-Hocker, setzen sich vor die Pläne und befassen sich eingehend mit den Projekten. Sie entscheiden als Gremium. Wer genau was sagt, soll deshalb geheim bleiben.

«Hier fährt man also die Rutschbahn hinunter. Aha.» 

«Viel zu wuchtig diese Fassade. Viel zu wuchtig.»

«Da wurden die monometrischen Feinheiten intelligent weitergezogen. Sehr schön.»

Die Jury hat auf der Basis von Bewerbungen vorgängig zehn Architekturbüros ausgewählt, die aufgrund ihrer Erfahrung mit ähnlichen Bauaufgaben am selektiven Wettbewerb teilnehmen konnten. Die Ideen sind sehr unterschiedlich: Ein Holzanbau? Ein Sauna-Lichthof? Ein Glasdach? 

Acht Zürcher Architekturbüros konkurrieren mit einem aus Paris und einem aus St. Gallen. 

«Am Schluss gewinnt oft ein Zürcher Büro, weil es die örtlichen Gegebenheiten gut kennt und mit den aktuellen Themen der Stadt vertraut ist», sagt Jeremy Hoskyn.

Die Besichtigung des Hallenbads

Am Mittag des ersten Tages fährt die ganze Jury mit dem Tram zum Hallenbad Altstetten. Mit jährlich 320’000 Eintritten gehört es zu den grössten der Stadt. Der 50 Jahre alte Betonbau soll um ein Lernschwimmbecken erweitert werden. Auch die Sauna, deren Eingangsbereich, das Restaurant und den Eingangsbereich müssen die Architekturbüros für den Wettbewerb umgestalten. 

Eben erst angekommen, zücken die Jurorinnen ihre Smartphones und fotografieren alles ab. Ein Architekt misst mit einem Meter die Raumhöhe. Für die Hallenbadbesucher, die im Restaurant gerade Pommes frites und Hirschpfeffer essen, ist diese Gruppe wahrscheinlich schwer zu lesen: Sind es Touristen? Studierende? Oder ist es ein Familienausflug?


Nachdem die Jury die Stahlrohre bestaunt hat, geht die Besichtigung draussen auf den Parkplätzen weiter. Ein Architekt will noch die Rutschbahn analysieren. Dafür müssen sich die Jurymitglieder durch eine Hecke kämpfen und gehen an zwei Männern vorbei, die im Aussenbecken planschen. 

Beim Spaziergang zum Tram wird kurz über Kinder und Schuheinlagen und nicht über Stahlstrukturen geredet. Fast verirrt sich die Gruppe, aber zum Glück kennt Rolf Müller den Weg. Er vertritt den Quartierverein Altstetten in der Jury.

Der 69-Jährige lebte nur vier Jahre «im Ausland, also in Dietikon» und b

esucht das Hallenbad oft. Dem ehemaligen SVP-Gemeinderat ist wichtig, dass das umgebaute Bad ins Quartier passt. Und die Besucherinnen müssten wiederkommen wollen und sagen: «Läck, hesch gseh?» Sein persönliches Lieblingsprojekt hat er bereits gefunden. Doch dafür braucht es die Mehrheit der Jury.

Die Bewertung

Zurück unter der Erde bei den Modellen gibt es Sandwiches. Das Ziel des Nachmittags: die Projekte bestimmen, die in die engere Wahl kommen. Was die Jury neben der Architekturqualität und einem gut funktionierenden künftigen Betrieb umtreibt, sind die vielen Baurechtsverletzungen. Gleich mehrere Architekturbüros haben Richtlinien nicht beachtet und den Abstand zu den anderen Grundstücken um mehrere Meter überschritten. Jurypräsident Jeremy Hoskyn stellt sicher, dass die Beurteilungskriterien berücksichtigt werden und dass alle Jurymitglieder ihre Haltungen einbringen können.

«Das sieht aus wie eine Fabrik und nicht wie ein Hallenbad.»

«Dieser riesige Eingang ist eine Verklärung. Völlig masslos.»

«Die Schülerinnen werden sich in diesem Labyrinth nicht zurechtfinden.»

Die Namen der drei letzten verbleibenden Projekte: «Pralinato», «Nepomuk» und «Less is Mero». Bei den anderen steckt Juryvorsitz Jeremy Hoskyn mit einem Reissnagel ein Papier an die Pinnwand. Dieser simple Akt bedeutet für die Architekturbüros: Ihr Projekt wird nicht gebaut. Sie bekommen keinen Auftrag der Stadt. 

Das Finale

Einen Monat später trifft sich die Jury unter der Erde am zweiten Jurierungstag zum Finale. Nachhaltigkeitsexpertinnen und Kostenplaner haben die drei Projekte der engeren Wahl inzwischen vertieft geprüft. Am besten schneidet Nepomuk ab. Im Vergleich zu den anderen Beiträgen müssen für den Neubau weniger Bäume gefällt werden. Die Kosten und die Treibhausgasemissionen sind am tiefsten.

Die Jurymitglieder schauen sich die drei Projekte nochmals genau an. 

«Diese Terrasse ist nicht nur pragmatisch. Ich sehe auch eine Poesie darin.»

«Ich habe mich versöhnt mit der Aussenfassade.»

«Das ist ein architektonischer Hosenlupf.»

Einzelne Personen, die sich viel zutrauen, haben einen grossen Einfluss. Die Männer beanspruchen deutlich mehr Redezeit als die Frauen in der Jury, vor allem die Architekten. Und wenn sie über die anonymen Projekte reden, dann immer im Maskulin. «Er baut so. Er macht das so.» 

Die Jurymitglieder sind jetzt klar in ihren Rollen und bringen ihre Argumente vor. Die Architekten sprechen über Fassaden und Volumen. Landschaftsarchitektin Ramel Pfäffli über Bäume und Begrünung. Tobias Bernhard vom Sportamt über Kinderwagen und Putzmaschinen. Und Rolf Müller über den Charakter seines Quartiers. 

Um 14.44 Uhr bei der Schlussabstimmung heben alle gleichzeitig die Hand. «Ein anders zusammengesetztes Gremium würde vielleicht zu einer anderen Entscheidung kommen», sagt Jeremy Hoskyn. Es sei wie bei einem Gericht.

Das Projekt «Less is Mero» fällt raus. Es wollte das bestehende Dach mit dem sogenannten Mero-Stahlrohrsystem des Hallenbads mit Hydraulikpumpen anheben. Das wäre viel zu aufwendig.

Auch der Holzanbau mit dem Namen «Pralinato» wird nicht gebaut.

Gewonnen hat das Projekt mit dem Namen des Halbdrachens aus Jim Knopf: «Nepomuk». Die Jury lobt den Steg, der zur Liegewiese führt, und den minimalen ressourcenschonenden Eingriff in die Bausubstanz.

Zum Schluss wird die Rangierung festgelegt und bestimmt, welche fünf Projekte einen wie grossen Anteil des Preisgelds von 195’000 Franken erhalten. Die Abstufungen sind auch eine Wertung. Ein bisschen wie im Schulzeugnis.

Schliesslich öffnet der Jurypräsident die Couverts, und es wird klar, welches Architekturbüro hinter welchem Namen steckt. Für die Jury scheint das fast so spannend zu sein wie die Auslosung der WM-Gruppen für Fussballfans: «Ah, wirklich!» «Ich habs mir doch gedacht.» «Neeein.» 

Dann ruft Jeremy Hoskyn den Sieger an. Zum Schluss des Anrufs am Ende des zweiten Jurierungstags sagt er dem euphorischen Mann am anderen Ende der Leitung: «Wir würden was trinken gehen. Kommt doch auch.»

Das Siegerbüro

Hinter «Nepomuk» steckt das Zürcher Büro Berrel Kräutler Architekten. Es hat bei der Namensgebung nicht an Jim Knopfs Halbdrachen gedacht, sondern an Johannes Nepomuk, den Schutzpatron für alle, die mit Wasser zu tun haben. 

«Boah!», sagt Geschäftsführer Maurice Berrel eine Woche später in den Räumlichkeiten in der Binz, spricht von einer riesigen Erleichterung. Das Wettbewerbsteam hat er danach zum Essen in ein mexikanisches Restaurant in Wiedikon eingeladen. Es sind vor allem junge Architektinnen und Architekten, die ihr Studium noch nicht lange abgeschlossen haben. 

«Der Druck ist riesig», sagt Maurice Berrel. Etwa jeden achten Wettbewerb müsse sein Büro gewinnen, damit es finanziell aufgehe. Er zeigt einen Zettel. Fett markiert steht die Zahl: 1492.13. So viele Stunden haben die sechs Mitarbeitenden für den Wettbewerb des Hallenbads Altstetten gearbeitet. Bei einem intern verrechneten Stundensatz von tiefen 80 Franken mache das 120’000 Franken. Die Landschaftsarchitekten, Statiker und vieles mehr sei da noch nicht eingerechnet. «Entweder wir gewinnen», sagt Berrel, «oder es ist ein riesiges Verlustgeschäft.» Der Aufwand werde immer grösser. Früher hätten im Durchschnitt 800 Arbeitsstunden für einen Wettbewerb gereicht. 

Gerade läuft es dem Büro gut. Pläne von Bädern in Engelberg und Bern hängen an der Wand. Diese Aufträge hat das Team von Berrel ebenfalls bei Wettbewerben akquiriert. 36 Leute arbeiten hier. Vor einem Jahr waren es noch 25. 

Der Basler Maurice Berrel machte sich 2013 selbstständig und baute auch schon die Schweizer Botschaft in Singapur. Dass sein Büro das Hallenbad Altstetten umbauen darf, ist für ihn speziell, weil er in Zürich noch nie einen Wettbewerb gewonnen hat. «Es gibt hier viele etablierte Büros, darum ist das sehr schwer», sagt Berrel. Jetzt könne er seinen Lehrlingen endlich eine Baustelle in der Nähe zeigen.

Tilmann Weissinger, der das Projekt «Nepomuk» mitentworfen hat, sagt, dass sie bis zur Deadline gearbeitet hätten. Es sei schwer, Stopp zu sagen. «Du kannst so viele falsche Entscheide fällen und drehst dich oft im Kreis. Und du kannst immer noch etwas verbessern.»

Zu den Arbeitsbedingungen in seinem Büro sagt Maurice Berrel: «Wir haben uns das Ziel gesetzt, nicht jeden Abend bis um 22 Uhr im Büro zu sein.» Leider gelinge das nicht immer. 

Er lacht.

2027 soll der Umbau beginnen. Zwei Jahre später wird das erneuerte Hallenbad Altstetten dann eröffnen.

Text im Tages-Anzeiger