Sie lernten sich zufällig im Schnee kennen und sind jetzt Zürichs coolste Rockband

Sie lernten sich zufällig im Schnee kennen und sind jetzt Zürichs coolste Rockband

Bier trinken mit Annie Taylor, die «kein Schniggischnaggi» machen und vor allem wegen der Unerschrockenheit von Sängerin Gini Jungi durchstarten. 

«Der Laden wäre fast eingestürzt. Am Nami am zwei», sagt Daniel Bachmann, der Drummer.

«Ich bin in Ginis Verstärker gestürchelt, und mein Bier ist ausgeleert», sagt Michael Mutter, der Bassist.

«Ich hörte nichts mehr. Dann kam der Techniker, tschuttete in den Amp – und es ging wieder», sagt Tobias Arn, der Gitarrist. 

Und Virginia Jungi, Sängerin der Zürcher Band Annie Taylor, von allen nur Gini genannt, sagt: «Es war einfach Rock ’n’ Roll!»

Der Laden, den die vier an einem Samstagnachmittag im Mai auseinandergenommen haben, heisst Volks. Ein Underground-Club in Brighton, englische Südküste. Die Decke hängt tief, der Boden klebt. Wer rauskommt, schwitzt, sieht den Steinstrand und dahinter den Atlantik. Nur wenige Schweizer Bands dürfen am englischen Newcomer-Festival The Great Escape auftreten. Wer eingeladen wird, kommt oft gross raus. Denn im Publikum stehen Labelchefinnen und Booker aus der internationalen Musikindustrie. 

«Mellow, cool guitar romp», schrieb das wichtige britische Onlineportal «Gigwise» zu Annie Taylor, ein sanft-cooler Gitarrentaumel. Das passt. SRF bezeichnete Gini Jungi sogar als «Rock-Queen der Schweiz».

Anfang Juli bringen Annie Taylor ihr zweites Album «Inner Smile» heraus und taufen es im Zürcher Kaufleuten. Höchste Zeit, die Band zu treffen. 

«Ich werde mal Rockstar»

Gini Jungi kommt direkt vom Frauenstreik ins Burgerrestaurant Silberkugel und zieht sich in der Toilette für den Fototermin um. Daniel Bachmann war vorher mit den Kindern in der Badi, vergass den Schlüssel, musste dann in die eigene Wohnung einbrechen. Und Michael Mutter und Tobias Arn brausen auf einem Roller an. Auf der Fahrt haben sie gesungen.

Eigentlich proben die vier Mitglieder von Annie Taylor am Mittwochabend immer im Bandraum in der Manegg, direkt neben Crimer. Ins Pedalo wollten sie sich fürs Fotoshooting nicht setzen. Das war ihnen zu brav. Der Burgerschuppen rockt da eher.

Die Geschichte von Annie Taylor beginnt in Laax. Gini Jungi, in Regensberg im Zürcher Unterland aufgewachsen, spielt als Kind am liebsten Band, entdeckt mit 14 Jahren Nirvana und möchte nach der Fachmittelschule herausfinden, was sie wirklich will.

Wintersaison in den Bergen. Job in der Bar, um sich das Snowboarden zu finanzieren. Im Indy serviert auch Michael Mutter, ein paar Jahre älter als Gini. Der lernt nach ein paar Bier Tobias Arn kennen. Mit langen Haaren, «so huere abglatschte Boots» und einer Kutte sei dieser rumgelaufen. «Da musste ich ihn ansprechen», sagt Mutter. Beide spielten damals in Rockbands. 

Auf der Piste und im Laaxer Ausgang sehen sich die drei immer wieder. Und eines Abends sagt Jungi einen Satz, den die Band heute als «‹Schweizer-Illustrierten›-haft» abtut, der aber trotzdem viel über die Sängerin von Annie Taylor aussagt. «Ich werde mal Rockstar.» Bis es so weit ist, dauert es noch ein bisschen. Gini Jungi geht von den Laaxer Pisten an die Pädagogische Hochschule und wird Kindergärtnerin. 

Mit dem Holzfass die Niagara-Fälle hinunter

Doch die drei machen neben der Ausbildung und  den Jobs auch Rockmusik. Als Bandname soll eine starke Persönlichkeit her. Matahari gibt es schon. Sophie Scholl ist zu traurig. «Gartenstuhl Larry», ein Mann, der mit Heliumballons abhob, diese mit einem Luftgewehr zerschoss und wieder landete, klingt zu ulkig. Also Annie Taylor! Mit 63 stieg die Amerikanerin in ein Holzfass. Zwei Fischer versorgten sie mit Schnaps, stopften es zu, pumpten mit einer Fahrradpumpe Luft hinein. Dann stürzte Taylor die Niagara-Fälle hinunter.

Das Fotoshooting in der Silberkugel ist geschafft. Daniel Bachmann fährt mit seinem Velo zum Coop und holt Dosenbier. Die Laaxer Zeiten der anderen Bandmitglieder kennt er nur vom Erzählen. «Ich wäre zu gerne dabei gewesen», sagt er. Bachmann ist Teil der Schweizer Popband Klaus Johann Grobe und von Annie Taylor. Seit Anfang Jahr spielt er Schlagzeug bei beiden Bands, weil der frühere Drummer von Annie Taylor andere berufliche Pläne hatte und die Band verliess. «Geil, ich schwitze beim Spielen», soll Bachmann bei der ersten Probe gesagt haben. Rock halt. 

Auf der Rentenwiese setzt sich die Band im Kreis auf den Boden. Michael Mutter streift sich das Ledergillet ab. Tobias Arn ist etwas verlegen, weil alle ständig seine Gitarrenkünste loben. 

Das neue Album «Inner Smile» wäre der perfekte Soundtrack für einen Coming-of-Age-Film. Zum Song «Love Is Blind» könnte eine Aussenseiterin oder ein mit Pickeln übersäter Teenager an der Promenade entlangskaten. Verzerrte Gitarren, die in einem Wahn enden. Das Schlagzeug rast. Gini Jungi schreit. Genug verschroben, um Rock zu sein, und trotzdem auch genug süffig, um im Radio gespielt zu werden. 

Ehrlicher als das Debüt «Sweet Mortality» sei das neue Album, sagt Michael Mutter, total reduziert, «kein Schniggischnaggi». Die Texte seien extrem persönlich, sagt Gini Jungi. «Eigentlich sind sie mein Tagebuch.» Ganz unterschiedliche Gefühle verarbeitet die Sängerin: frisch verliebt sein, frustriert, mehr als zufrieden – und wütend. 

Zum Beispiel in «Fucking Upset», einem Song gegen das Patriarchat und gegen Männer, die alles besser wissen. Auf der Rentenwiese erzählt sie von Typen, die ihren ernsten Gesichtsausdruck kritisieren und sie zum Lachen auffordern, und von Technikern, die sie beim Soundcheck auf der Bühne nicht ernst nehmen. Höre sie kein Signal aus dem Verstärker und kritisiert das, werde sie oft belächelt. «Wenn hingegen ich mit meinen 1,86 Meter etwas sage, rennen sofort zwei Leute hin», sagt Michael Mutter. «I am so bored», singt Gini Jungi im Stück. Gelangweilt und verdammt wütend. Genau so klingt «Fucking Upset». 

«Ein bisschen ungefährlich»

Es gibt aber auch ruhigere Songs auf dem neuen Album. Im Videoclip zu «Ride High» läuft Gini Jungi mit Zuckerwatte durch Los Angeles, besucht Vintage-Shops und trägt eine Sonnenbrille. 

Es sei ein lupenreiner Popsong, sagt Dominic Dillier, Rock-Experte und Musikredaktor bei SRF. Annie Taylor seien zwar eine Rockband – Viervierteltakt, zwei oder drei Gitarrenakkorde, die Attitüde –, aber eine mit einem sehr poppigen Zugang. «Es knallt nicht wirklich. Annie Taylor sind wahnsinnig melodiös und auch ein bisschen ungefährlich.» 

Dominic Dillier sieht den Schweizer Rock der vergangenen 20 Jahre etwas in einer Sackgasse. Trotzdem gebe es gerade jetzt einige aufstrebende und innovative Bands. Anger Mgmt und The Shattered Mind Machine aus Winterthur zum Beispiel. Oder Saitün aus Basel, die orientalische Klänge mit Rock mischen. 

Autor Stefan Künzli, der ein Buch über Schweizer Rockpioniere geschrieben hat, nennt noch Velvet Two Stripes aus St. Gallen und Shakra, die es mit Hardrock sogar in die deutschen Charts schafften. Er sagt aber auch: «Rock ist in den grossen Schweizer Städten nicht mehr so angesagt wie früher und gilt oft als uncool.» Die Zeit, als langhaarige Musiker mit ihren Gitarrenriffs provozieren konnten, sei schon lange vorbei. Ein bisschen aufmüpfig seien die Bands vielleicht noch. «Aber heute ist die Rebellion in einem sehr kleinen Rahmen», sagt Künzli. «Auch bei Annie Taylor.»

Den Job im Kindergarten gekündigt

Das Album aufgenommen haben Annie Taylor in Bristol mit dem Produzenten Ali Chant. Dieser hat auch schon mit Stars wie PJ Harvey zusammengearbeitet. Bei den Aufnahmen sei er im Schneidersitz auf einem komischen Stuhl gesessen und irgendwie Teil der Band geworden. Zweimal war die Gruppe auswärts essen, am Abend sahen sie sich manchmal auf dem «ultraverstaubten Sofa» einen Film an. Sonst: Frühstück – und dann an der Musik arbeiten.

Das Skelett der Songs liefert immer Gini Jungi, häufig schickt sie den anderen Bandmitgliedern Ideen als Sprachmemos. «Dann kleiden wir die Knochen gemeinsam ein», sagt sie. Von den anderen wünscht sie sich, dass die Musik zu ihren Texten so klingen solle wie ein Strandspaziergang, wie ein Schlüssel, der ein Auto zerkratze, oder wie ein Schleckstängel, der auf der Zunge «chrüselet».

Gini sei dabei aber keine Matriarchin, sagen die Männer der Band. Sie sei einfach richtig gut darin, nicht die ganze Zeit zu sagen: «Wir könnten, wir könnten.» 

«Ja Mann!», sagt die Sängerin dann. «Wir machen, wir machen!» Viel in der Band habe mit Selbstinitiative zu tun. «Niemand hat darauf gewartet, dass du endlich ein Album veröffentlichst und an Festivals spielst», sagt Jungi. «Du musst zeigen, dass du willst. Jetzt oder nie.» Darum hat sie ihren Job im Kindergarten gekündigt, macht nur noch Vertretungen, wenn es sein muss. Und darum treten Annie Taylor nicht nur auf Schweizer Bühnen auf – klassische Ochsentour –, sondern planen lieber Konzerte im Ausland. Seit neuem arbeiten sie mit einer englischen Booking-Agentur zusammen, wollen im nächsten Jahr durch Europa touren. «Und Konzerte in Mexiko wären geil», sagt Gini Jungi.

«I mues langsam haifresä», sagt Tobias Arn, der in Solothurn wohnt. «Hets no Bier?», fragt Daniel Bachmann. Für den nächsten Morgen um 9 Uhr verabredet er sich mit Gini Jungi zum Siebdrucken der Band-T-Shirts für die Plattentaufe. 

Eine Woche später noch mal ein Telefonat mit Gini Jungi.

«Ich werde mal Rockstar», den Job kündigen und voll auf Gitarrenmusik setzen, «Wir machen, wir machen!» – Wie kann man so unerschrocken sein?

Gini Jungi überlegt. «Ich hatte keine Ahnung von der Musikszene», sagt sie. Und wenn sie gehört habe: «Das kann man so nicht machen!», dann habe sie das zusätzlich motiviert. «Mol, kann man schon», sagte sie. Es gebe ja keine Regeln. 

Menschen, die sich ausserhalb der Norm bewegen, würden sie inspirieren. Tina Turner etwa, die sie mit zehn Jahren live gesehen hat. «Fuck, das will ich auch», dachte sie, und malte eine Zeichnung. Befreundete Girls, die auch immer mit einer Band unterwegs waren und ihr zeigten, dass man machen kann, worauf man Bock hat. Und natürlich Annie Taylor mit ihrem Holzfass. «Sie ist einfach die Niagara-Fälle heruntergestürzt», sagt Gini Jungi «Ob es legal war? Was die Leute von ihr dachten? War ihr egal!» 

Taylor überlebte, verletzte sich nur am Hinterkopf. Später starb sie einsam in einem Armenhaus. Für eine kurze Zeit aber, da war sie eine Heldin.

Text im Tages-Anzeiger