Gereizte Gäste und Fräulein-Zurufe – Zürcher Gastronomen haben genug
Serviceangestellte und Restaurantchefs geben Einblick in ihren Alltag – und erzählen, was sie nicht mehr tolerieren. Über ein neues Selbstverständnis in der Gastrobranche.
Sie wolle nicht schnoddrig servieren, sagt Snjezi Sovilj. «Aber ganz sicher auch nicht devot und arschkriecherisch.»
Gerade hat die 51-Jährige den Mittagsservice im Café Boy beim Zürcher Lochergut hinter sich. Sie sitzt draussen an der Sonne und scherzt mit ihrer Arbeitskollegin Marlis Fuchs. Seit 30 Jahren serviert Sovilj in Restaurants in Zürich. Viel habe sich verändert, sagt sie. Die Hierarchie zwischen ihr und den Gästen habe sich stark abgeflacht. «Ich bin die Gastgeberin, und bei uns gelten bestimmte Regeln» – so sieht sie es heute. Sie könne viel ehrlicher und selbstbewusster auftreten als noch vor ein paar Jahren.
Ihr ehemaliger Chef habe es am besten auf den Punkt gebracht, sagt Marlis Fuchs. «Wir sind keine Untertanen, also gibt es auch keinen König», habe dieser gesagt. «Der Service ist kein royales System, sondern ein basisdemokratisches.»
Für Snjezi Sovilj ist diese Haltung sehr wichtig – gerade jetzt. Denn seit das Café Boy nach der Corona-Pandemie wiedereröffnet hat, seien die Gäste noch fordernder als zuvor. «Einige denken, sie hätten eine schwere Zeit gehabt und dürften jetzt austeilen», sagt Sovilj. Ein Mann streckte ihr kürzlich die leere Weinflasche entgegen und rief «Fräulein». «Leider habe ich mich umgedreht und ihn nicht einfach ignoriert», sagt Sovilj.
Sich nicht alles gefallen lassen
Eine Umfrage der Gewerkschaft Unia vom Mai bei 260 Angestellten im Gastgewerbe ergab ein erschreckendes Bild: 27 Prozent der Befragten gaben an, dass sie auf der Arbeit schon sexuelle Belästigung erlebten. 42 Prozent wurden Opfer von Mobbing. In einem Viertel der Fälle gingen die Belästigungen von den Gästen aus.
Dass sich die Gäste in Restaurants und Cafés seit der Pandemie unflätiger aufführen und dass sich die Haltung im Service verändert, bestätigen mehrere angefragte Stadtzürcher Gastronomen.
Raffaele Sutter führt das Bistrot Franzos am Limmatquai. Wenn am Morgen die Croissants noch im Ofen seien und eine Person mit dem falschen Bein aufgestanden sei, dann bekämen er und seine Mitarbeitenden das zu spüren. «Früher hätten wir uns mehr zusammengerissen», sagt Sutter. «Aber das hat sich verändert. Wir verwöhnen unsere Gäste, aber wir lassen uns auch nicht alles gefallen.»
Bei den Google-Bewertungen wird das dann zum Beispiel so quittiert: «Service wirkte arrogant und uncharmant. Dann war auch noch eine Fruchtfliege in meinem Drink.» Die grosse Mehrheit der Kommentare sind aber positiv: 4,5 von 5 Sternen hat das Franzos auf Google.
Raffaele Sutter sagt, die Art und Weise, wie Gäste Kritik anbringen, habe sich stark verändert. «Früher haben uns die Gäste direkt angesprochen, und dann konnten wir einen Digestif offerieren. Heute ist alles gut, und dann hauen uns die Gäste anonym bei Google in die Pfanne.»
Das fuchse umso mehr, weil das Franzos und die ganze Zürcher Gastronomie seit der Pandemie mit Personalmangel kämpften. «Da ist es gar nicht möglich, immer einen Top-Service zu bieten», sagt Sutter. Einige gute Mitarbeitenden habe er verheizt, weil die viele Arbeit auf sehr wenige Schultern verteilt werden musste. «Ich will nicht jammern», sagt Raffaele Sutter, aber das letzte Jahr sei für den Franzos das bisher schwierigste gewesen. Zum ersten Mal seit Corona seien nun aber wieder alle Stellen besetzt.
Laut der Unia haben Tausende Arbeitskräfte in der Schweiz das Gastgewerbe verlassen und in Branchen gewechselt, in denen die Arbeitsbedingungen besser sind: etwa im Detailhandel, in der Pflege oder im Bau.
Neues Selbstbewusstsein
Mischa Dieterich ist Partner der Miteinander GmbH, die an verschiedenen Gastrobetrieben in Zürich beteiligt ist, unter anderem am Gartenhof, an Frau Gerolds Garten und der Bar im Kunsthaus-Neubau. «Die Gastronomen sind heute bestimmter», sagt er. Das führe manchmal zu Konflikten.
In der Kunsthaus-Bar wollte ein Gast kurz nach der Eröffnung Spaghetti bestellen. «Wir hatten keine im Angebot», sagt Dieterich. Als der Mann darauf beharrte, und nicht auf die Speisen auf der Karte auswich – Kichererbsenpuffer mit süsssauren Gurken etwa –, sagte Dieterich: «Ich glaube, dann sind wir nicht das richtige Lokal für Sie.»
Ähnlich reagieren musste ein anderer Kunsthaus-Bar-Mitarbeiter kürzlich an einem Feierabend. Ein Herr beschwerte sich, dass die elektronische Musik zu laut sei. Der Wechsel auf Jazz und das leisere Volumen nützten nicht. Der Mann beklagte sich erneut.
Die Gäste seien sich gewohnt, immer und überall fast alles zu bekommen, sagt Mischa Dieterich. Doch das Angebot der Restaurants werde immer spezifischer: Americano statt Café crème, Craftbeer statt Stange. «Die Gastronominnen sind stolz auf ihre Konzepte und wollen diese durchziehen. Das führt oft zum Clash.» Die Gäste fühlten sich nicht gut bedient, die Serviceangestellten nicht wertgeschätzt.
Dieses neue Selbstbewusstsein sei aber kein Freipass, schnoddrig zu servieren und kaugummikauend hinter dem Tresen zu stehen, sagt Dieterich. Auch wenn einer seiner Mitarbeiter einen schlechten Tag habe, müsse er schnell sein und dem Gast eine gute Zeit ermöglichen. «Sonst bist du im falschen Job.»
Das sagen auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gastrobetriebs in der zwischengenutzten Zentralwäscherei. Zu dritt erzählen sie über ihre persönliche Haltung, mit Namen möchten sie aber nicht genannt werden. «Wenn ich zehn Minuten auf einen Kaffee warten muss und die Bedienung eine Schnute zieht und rumschlurft, denke ich: Gib mir doch ein bisschen mehr love!», sagt eine Person und karikiert das Klischee eines alternativen Kulturorts. So solle sich in der Zentralwäscherei niemand fühlen. Ein guter Standard beim Service sei ihnen wichtig, denn die «ZW» sei ihr Baby.
Die Lösung sei nicht, das Motto «Der Kunde ist König» einfach umzudrehen und die Gäste von oben herab zu behandeln. Die Mitarbeitenden der Zentralwäscherei formulieren es so: «Wenn du nice zu mir bist, bin ich auch nice. Wenn du mich anschnauzt, schnauze ich zurück.»
Die Philosophie der Hotelfachschulen
Auf hohem Niveau ausgebildet werden Servicemitarbeitende an Hotelfachschulen. Wie man an schlechten Tagen und trotz gereizter Kunden ein guter Gastgeber sein kann, ist dort ein wichtiges Thema. «Wir lehren die Studierenden, wie sie ihre Emotionen regulieren können, um das Positive der Marke zu widerspiegeln», sagt Professor Matthias Fuchs, der in Lausanne doziert.
Das heisse nicht, dass man im Service aufgesetzt lachen oder heucheln müsse. Das Motto «Der Kunde ist König» sei schon lange tot. Viel eher gelte heute der Leitspruch der Hotelkette Ritz Carlton: «We are ladies and gentlemen serving ladies and gentlemen.» Das heisst: Gäste und Servicemitarbeitende befinden sich auf der gleichen Ebene. Es sei wichtig, dass die Betriebe ihre Angestellten im Bereich Wellbeing und psychische Gesundheit unterstützten.
Auch Jürgen Zerza von der Hotelfachschule Luzern sagt: «Gute Serviceangestellte sind heute weder Diener noch Tellertaxi, sondern Verkäufer und Berater.» Was sich aber nicht verändert habe, sei, dass Freundlichkeit nach wie vor das Wichtigste sei. Viele Restaurants würden ein Smiley an die Türe bei der Küche kleben oder einen Spiegel aufstellen, um die eigene Ausstrahlung zu checken. «Den Gästen ist egal, ob die Freundin des Servicemitarbeitenden gerade Schluss gemacht hat», sagt Zerza.
Dieser Meinung ist auch Snjezi Sovilj aus dem Café Boy in Zürich. Sie erwarte im Gegenzug aber auch von den Gästen, dass diese ihre Laune nicht an ihr ausliessen.
Vor einem Jahr kommentierte eine Person bei Google zum Café Boy: «Dunkelhaarige Frau mit langen, zusammengebundenen Haaren war sehr unfreundlich. Sie hatte das Gefühl, sie müsse mir nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.» Wer damit gemeint war, bleibt unklar.
Snjezi Sovilj sagt, es tue ihr nicht gut, diese Kommentare zu lesen. Viel lieber will sie vor Ort gut auf die Gäste eingehen, das macht ihr Freude. Die Kunst im Service bestehe darin, im richtigen Moment die treffenden Worte zu finden. Kürzlich hätten Leute die Tische im Café Boy verschoben, ohne zu fragen. «Verkappte Innenarchitekten», sagt Snjezi Sovilj. Sie habe ihnen gesagt: «Lassen Sie doch eine Visitenkarte hier, falls wir mal eine Beratung brauchen.»