Trading-Kult verführt 15-jährigen Zürcher

Trading-Kult verführt 15-jährigen Zürcher

Eine Firma verspricht ihm ein Leben im Luxus. Der KV-Stift kündigt seine Lehre per Whatsapp, handelt mit Währungen und haut von zu Hause ab. Er ist nicht der Einzige.

Der Vater sagt: «Sie haben sein Gehirn gewaschen.» Die Mutter sagt: «Ich habe Angst um ihn.» Und der Sohn, Marco, sagt: «Ich will einfach nur Geld machen und ein berühmter Hustler werden, der mit allem handelt.» 

Es eskaliert im April. Marco, der in Wirklichkeit anders heisst, möchte nach Barcelona reisen. Dort will er an einer Konferenz der umstrittenen IM Mastery Academy teilnehmen. Diese verspricht Menschen auf der ganzen Welt Reichtum und Erfolg. Mentoren der Firma lehren Neulinge in Online-Seminaren, wie man mit Fremdwährungen und Kryptos handelt. Und sie motivieren sie, neue Kunden anzuwerben, um so Geld zu verdienen.

Marco ist vom Trading-Kult angefixt. Stundenlang und bis tief in die Nacht sitzt der KV-Lehrling zu Hause im Zürcher Oberland vor dem Computer, telefoniert und schaut sich Videos an.

Jetzt will er seine Vorbilder endlich treffen. Live. In Barcelona. Zusammen mit 8000 anderen Mitgliedern der Academy. 

Doch seine Eltern verbieten ihm die Reise. Der Vater nimmt Marco die ID ab, weil er fürchtet, sein Sohn würde trotzdem nach Barcelona reisen. Kurz vor der Konferenz verlässt der 15-Jährige frühmorgens das Haus. Auf Anrufe reagiert er nicht. «Ich habe ihm geschrieben: Hey, alles ist gut. Ich will nur wissen, ob es dir gut geht», sagt Mutter Anna. Nichts. Sie geht zur Kantonspolizei Zürich und gibt eine Vermisstenanzeige auf. 

Drei Tage später ein Telefon aus Deutschland. «Wir haben ihn.» Mit einem Easyjet-Flug reiste Marco nach Berlin und schlief dort drei Nächte bei anderen Mitgliedern der Academy. Dann ging er auf die Schweizer Botschaft und beantragte einen Notpass, um es doch noch nach Barcelona zu schaffen. Die Kantonspolizei Zürich und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten bestätigen den Vorfall.

Acht Mitglieder von IM festgenommen

In Berlin musste Marco beim Jugendnotdienst warten, bis ihn jemand abholte. Eine Freundin der Eltern, die in der Nähe wohnt, kam mit dem Auto. Die Mutter flog hin – so schnell es ging – und brachte ihren Sohn nach Hause. Das erzählt sie in einer Videokonferenz Ende April. Sowohl Marco als auch seine Eltern sind dabei. Weil die Eltern getrennt sind, schaltet sich Vater David von seiner Wohnung aus zu. Marco sitzt neben seiner Mutter.

Der junge Zürcher ist einer von vielen Teenagern, die plötzlich fast alles für IM und das versprochene grosse Geld tun. 400’000 Mitglieder weltweit hat die Online-Akademie laut eigenen Angaben. Wer andere Personen dazu bringt, IM beizutreten, wird belohnt. Wer beispielsweise 12 neue Kunden angeworben hat, erhält im Monat fortan knapp 600 Franken – so geht es aus einer Tabelle der Academy hervor. Bei 30’000 angeworbenen und aktiven Kundinnen und Kunden winkt fast eine halbe Million pro Monat. 

In Spanien wurden im Frühling acht Mitglieder der IM Academy festgenommen. Sie werden verdächtigt, ein Schneeballsystem zu bewerben, so berichtet es der Fernsehsender Euronews. Sechzig Familien, deren Kinder bei IM angemeldet sind, lassen sich derzeit von «RedUne» beraten, einer Organisation, die auf Sekten spezialisiert ist. «Die Mentoren von IM benützen Techniken, die an Sekten erinnern», sagte eine Sprecherin der Nationalen Polizei Spaniens zu Euronews. «Sie wollen, dass Jugendliche mit ihren Familien brechen und alles für die Organisation tun.»

Beim Gespräch mit der Familie ist auch Psychologe Franz Eidenbenz von Radix dabei, einem Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte in Zürich. Eidenbenz therapiert neben der Familie noch einen anderen Zürcher Jugendlichen, der nicht mehr von IM loskommt. Die Fälle von Teenagern, bei denen Online-Trading und mutmassliche Schneeballsysteme eine Rolle spielen, nähmen zu, sagt er. Auch der Leiter der Offenen Jugendarbeit Zürich sagt, dass das Thema kürzlich in zwei Jugendtreffs auftauchte.

Wie viele Personen in der Schweiz in der IM Academy eingeschrieben sind, ist unbekannt. In den sozialen Medien finden sich mehrere junge Erwachsene, die mit der Mitgliedschaft prahlen: ein Luzerner Lüftungsmechaniker, ein Aargauer Rekrut, eine Zürcher Drogistin. 

Die «Schweiz am Wochenende» hat vor zwei Jahren über ein ähnliches Unternehmen berichtet, das «International Building Academy» heisst und ebenfalls Mitglieder in der Schweiz hat. Das Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigte damals, dass verschiedene Meldungen zu angeblichen Trading-Apps eingegangen waren, die als Schneeballsystem funktionieren und ein jüngeres Publikum ansprechen.

Bleich und vereinnahmt

Marco kam über einen Kollegen zur IM Academy. Im vergangenen Dezember zahlte er 325 Franken Anmeldegebühr – das ist fast ein halber Monatslohn in seinem ersten KV-Lehrjahr. Dazu kommt ein monatlicher Abopreis von 275 Franken. Die Gegenleistung: Zugang zu Online-Seminaren mit angeblich erfolgreichen Tradern. «Es ist wie eine Familie von Gleichgesinnten», sagt der 15-Jährige. Er habe viel gelernt. Das Wichtigste sei das Mindset. «Von nichts kommt nichts.» Er wolle seiner Familie etwas zurückgeben können.

Vater David will kein Geld, sondern einfach, dass sein Sohn wieder so ist wie früher. «Marcos Ausstrahlung hat sich verändert», sagt er im Gespräch. Sein Sohn habe einen komischen Ausdruck in seinen Augen und sei oft bleich. Das Zimmer habe er mit Flipcharts tapeziert, auf denen Motivationssprüche stehen:

«Ich will einen Bentley fahren und ein riesiges Haus haben.» 

«Ich will im Ausland leben und einen eigenen Koch und Piloten haben.»  

«Ich will mich und die Familie finanziell frei machen.» 

«Ich will mein eigener Boss werden.»

Auf einem Foto des Zimmers von Marco sind solche Sprüche erkennbar. Auf einem anderen Papier daneben sind seine To-dos aufgelistet:

«10 DMs send (Direktnachrichten)»

«Mindestens 50 Franken Profit» 

«Mentorship-Video anschauen» 

Unten auf dem Flipchart steht gross:

«DON’T LIE TO YOURSELF

Der Vater sagt, die KV-Lehre und seine alten Freunde seien seinem Sohn egal. Marco bleibe am Morgen manchmal liegen und träume davon, mit 20 genug Geld zu haben, um sich pensionieren zu lassen. David schätzt die Personen hinter der Academy als betrügerisch ein: «Sie gehen auf Minderjährige zu und locken sie in eine Falle.»

In einem Vertrag mit sich selbst, den Marco unterzeichnet hat und der dieser Zeitung vorliegt, steht: 

«Ende 2022 werde ich 100’000 Euro auf mein Konto gebracht und die Stufe Platin 5000 erreicht haben. Die Grundlage allen Erfolgs für mein Onlinebusiness sind neue Kontakte! Resultierend daraus plane ich, jeden Monat durchschnittlich zehn neue persönliche Kunden zu sponsern.»

Um «Platin 5000» zu erreichen – Marcos Ziel –, müsste er 225 Personen überzeugen, der Academy beizutreten. Dafür bekäme er dann pro Monat circa 5000 Franken. Sechsmal so viel wie sein Lehrlingslohn.

Ein CEO namens Panda

«Das System funktioniert nur, solange exponentiell neue Kunden dazukommen. Dann implodiert es.» Das sagt Jan-Alexander Posth, Dozent für Banking und Finance an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Anbieter wie die IM Mastery Academy seien darauf angelegt, dass einzelne Personen immer tiefer eingesaugt werden – bis ein Suchteffekt eintrete. 

Jan-Alexander Posth hat früher selbst bei Hedgefonds und bei Banken im Trading gearbeitet. Er sagt: «Es ist nicht realistisch, dass ein 15-Jähriger mithilfe von Videos mit zweifelhaften Inhalten und unter Gruppendruck lernt, erfolgreich mit Fremdwährungen und Bitcoins zu handeln.» Natürlich gebe es immer Erfolgsstorys von jungen Trading-Millionären mit Jachten und Ferraris. Aber das seien statistische Ausnahmen – oder einfach Fakes. Die Mentoren würden sich als Kumpel, als Vorbilder ausgeben, die wissen, wie man das ganz grosse Geld macht. «Da würde ich als Jugendlicher natürlich auch denken: Wieso soll ich überhaupt noch meine Lehre abschliessen?»

Der oberste Mentor und Gründer der IM Academy heisst Christopher Terry. Marco bezeichnet ihn als absolutes Vorbild. An Konferenzen wie jener in Barcelona wird er wie ein Heiliger verehrt. «Panda» nennen sie ihn in der Community. Er sagt, vom Bauarbeiter aus der Bronx zum Super-Trader aufgestiegen zu sein und so 100 Millionen Dollar verdient zu haben. 2013 gründete Terry seine Academy.

Diese Zeitung hätte von Christopher Terry und seiner IM Academy gerne mehr über die Firma erfahren. Einen ausführlichen Fragenkatalog zum mutmasslichen Schneeballsystem und zu den Techniken, mit denen Jugendliche verführt werden und die vermeintlich an Sekten erinnern, liess das Unternehmen aber unbeantwortet.

Mentoren empfehlen fluoridlose Zahnpasta

Unter dem Panda kommt bei der IM Mastery Academy lange niemand. Doch auch in der Schweiz gibt es Mitglieder der IM Academy, die in der Community hohes Ansehen geniessen. Kris W. etwa. Er hat den Rang Chairman 10, verdient laut dem IM-Lohnsystem knapp 10’000 Franken. Fragen lässt er unbeantwortet.

Auf Youtube gibt es eines jener Videos zu sehen, die sich der 15-jährige Zürcher Marco jeweils reinzieht. Kris W. sitzt mit Airpods in den Ohren in Griechenland und tritt als Mentor auf. Kris W. erzählt etwa von der schrumpfenden Zirbeldrüse im Gehirn, «das Auge Gottes, das man unbedingt in den Alphazustand bringen muss». Dafür empfiehlt er fluoridlose Zahnpasta und Kurkumapulver. Nur so könne man frei denken. 

Kris W. kann aber auch konkreter: «Ich bin ehrlich, die letzten Jahre, die waren geil, aber die waren auch nicht einfach», sagt er im Video. Er habe oft nur drei bis vier Stunden pro Nacht geschlafen. Mittlerweile liebe er das. «Um Erfolg zu haben, musst du über einen konstanten Zeitraum verzichten können: auf Partys und auf Netflix.» Auch ein Familienfest müsse man da mal auslassen können, sagt Kris W. den jungen Tradern. «Grossartigkeit benötigt Besessenheit.»

Psychologe Franz Eidenbenz vom Zentrum für Spielsucht Radix sagt: «Das empfohlene Verhalten birgt eine Suchtgefahr und somit ein erhebliches Risiko – vor allem für junge Menschen.» Letztlich würden eine Community oder oberflächliche Kontakte wichtiger als die Familie und die Freunde.

«Der Spiegel» hat Kenntnis von IM-Videos, die sogar noch manipulativer sind als jene von Kris W. In einem Video werde gesagt: «Die IM Academy nicht mit andern zu teilen, ist, wie Krebskranken ein Heilmittel vorzuenthalten.»

In der Schweiz hat es noch viele weitere Academy-Mentoren wie Kris W. Ein junger Mann aus dem Kanton Zürich, Daniel M., wirbt über seine eigene Website Kunden an. Er hält sich laut Instagram gerade in Dubai auf und will keine Auskunft über die Academy geben.

An der Konferenz in Barcelona ist er vor 8000 Personen als Speaker aufgetreten. Der After-Movie zum Event, an den Marco unbedingt wollte, zeigt junge Menschen im Publikum, die applaudieren und gewisse Wörter der Referenten nachschreien: «Wisdom» etwa, Weisheit. Die Veranstaltung sieht aus wie ein Mix aus einem Gottesdienst einer Freikirche und einem Stadionkonzert.

Vater will den Internetzugang kappen

In der Videokonferenz zwei Wochen nach seiner missglückten Reise nach Barcelona sagt Marco: «Es war schon nicht gut, was ich abgezogen habe. Aber ich wollte unbedingt an die Konferenz.» Er habe den Chef der IM Academy live sehen wollen, Chris Terry. «Und andere, die mega gut im Traden sind.»

Anna, die Mutter, sagt: «Ich bin immer noch enttäuscht, dass es so weit gekommen ist.» Dann erzählt sie noch von einer weiteren Episode, die sich vor der Reise nach Barcelona zutrug. Marco habe damals seinem Chef per Whatsapp geschrieben, dass er die KV-Lehre kündigen will. Nur weil dieser Verständnis hatte, konnte die Familie den Schritt rückgängig machen. «Da hast du wirklich einen Blödsinn gemacht. Oder, Marco?», sagt der Vater. Der 15-Jährige schaut weg. «Ja», sagt er. Er wolle seine Lehre jetzt fertigmachen. Und er gehe jetzt auch wieder früher ins Bett. «Ich habe zurückgeschraubt.»

Einen Monat später ist nochmals eine Videokonferenz mit der Familie und mit Psychologe Franz Eidenbenz vereinbart. Es erscheint nur Vater David. Er sagt: «Marco möchte nichts mehr sagen. Er will die Academy nicht schlechtreden.» Dann zeigt der Vater ein Papier, auf dem in Englisch und mit Handschrift geschrieben ist: «Ich bin glücklich und dankbar, am 1. August den Rang Chairman 10 erreicht zu haben.» Chairman 10 ist der Rang, den Kris W. erreicht hat. Den Satz hat Marco immer und immer wieder auf das Blatt geschrieben. «Gehirnwäsche», sagt Vater David. 

Er habe diese Woche grosse Schwierigkeiten gehabt, mit seinem Sohn zu sprechen. Marco bleibe wegen der Academy immer noch bis spätnachts wach. Vielleicht werde er ihm verbieten, an den Onlinekursen und Telefonaten teilzunehmen, und seinen Internetzugang kappen. Hier greift Psychologe Franz Eidenbenz ins Gespräch ein. Er warnt vor einem kalten Entzug. «Die Erfahrung zeigt, dass das plötzliche Unterbrechen des Kontakts zur Community zu einer aggressiven Eskalation führen kann. Oder dass Betroffene abhauen oder untertauchen.»

Er sieht die alten Freunde wieder

In einer Recherche des «Spiegels» steht, inzwischen würden auch die Finanzbehörden von Belgien und Frankreich vor der IM Academy warnen. Martin Steiger, Anwalt und Digitalexperte im Zürcher Seefeld, sagt: «Es ist durchaus möglich, dass die IM Mastery Academy in der Schweiz gegen das Recht verstösst.» Schneeballsysteme seien illegal, doch es gebe eine grosse Grauzone. Auch die Finanzmarktaufsicht (Finma) könne gegen das Unternehmen ermitteln. Die Finma schreibt auf Anfrage, sie könne sich zu einem allfälligen Verfahren nicht äussern.

Chris Terry, der Panda, tourt momentan gerade durch Europa. Marco habe für den Event in Frankfurt Ferien eingegeben, sagt sein Vater. Dann aber – bei einem Telefonat Ende Juli – sagt Vater David: «Irgendetwas ist geschehen.» Marco verbringe weniger Zeit mit der Academy und dafür wieder mehr mit seinen alten Freunden. Sein Sohn habe die Plakate mit den Motivationssprüchen im Zimmer in einem Wutanfall zerknüllt. Und er wolle auch nicht mehr nach Frankfurt an den Auftritt von Chris Terry.


Weshalb?

Der Vater sagt: «Marcos Team bei der Academy hat sich verkleinert.» Das Geld für die Abogebühren habe er verloren und nie wirklich etwas verdient. Die Mutter sagt: «Marco hat begriffen, dass ihn die Academy nicht zum Erfolg führt.»

Und Marco selbst?

Der sagt noch nicht viel dazu. Was genau ihn dazu bewogen hat, sich von der Academy zurückzuziehen, bleibt unklar. Zu frisch ist alles noch. Seine Eltern versuchen gerade, ihm wieder näherzukommen. Und sind momentan einfach froh, dass Marco wieder ein bisschen mehr Marco ist. 

Text im Tages-Anzeiger