Der verzweifelte Opernsouffleur

Der verzweifelte Opernsouffleur

Vladimir Junyent musste erfahren, dass alle seine geliebten Notenbücher weg sind. Jetzt versucht er, sie zurückzuholen. Eine Tragödie in drei Akten.

Normalerweise sitzt er in seinem Kabäuschen auf der Bühne und flüstert den Sängerinnen und Sängern ihre Arien ein, doch gerade ist Vladimir Junyent selbst in ein Drama verwickelt, als Hauptdarsteller.

1. Akt, auslösendes Ereignis, Oktober 2020

Ein Kollege von der Oper fragt Junyent in der Pause einer Probe, ob er seine Noten ins «Bücher-Brocky» hinter dem Bahnhof Enge gebracht habe. Er habe dort eine Partitur mit seinem Stempel entdeckt. Vladimir Junyent weiss sofort: Jemand muss den Estrich geräumt haben, in dem er seine rund 300 Musikbücher lagerte. Unter Schock fährt der Opernsouffleur ins Brockenhaus, will die Noten retten. Doch im Gestell stehen nur noch ganz wenige Bücher – und nicht jene, an denen er wirklich hängt.

«Mittlerweile kann ich wieder essen und schlafen», sagt Vladimir Junyent beim Treffen Anfang November. Eine Woche ist seit der Hiobsbotschaft vergangen. Die Noten sind für Junyent nicht nur eine Gebrauchsanweisung. Sie sind seine Geschichte, die in Barcelona beginnt und dann über Opernhäuser in ganz Europa in den Souffleurkasten des Opernhauses Zürich führt.

Im Proberaum beim Escher-Wyss-Platz, in dem er seine Geschichte erzählt, liegen Revolver und eine Jesus-Büste in einem Gestell, auf dem Flügel steht eine Packung Raffaello. Am Morgen hat Junyent hier mit der Equipe des Opernhauses das Stück «Simon Boccanegra» von Giuseppe Verdi geübt. «Die Noten dafür habe ich noch», sagt er. Ein dickes Buch voll mit Eselsohren, Bleistiftkritzeleien und Post-its. Später wird es ihn an die Proben des Stücks über den Dogen Genuas erinnern, an die Corona-Zeit, an das, was ihn während dieser Zeit bewegte.

«Soll ich verzweifelt schauen?», fragt Junyent den Fotografen. Er, der sonst allein im Orchestergraben sitzt, ist es noch nicht gewohnt, der Hauptdarsteller zu sein.

2. Akt, Rückblende, 2009

Der Operndirektor holt Vladimir Junyent nach Zürich. Als der Souffleur fünf Jahre später in eine kleinere Wohnung zieht, hat er keinen Platz mehr für all seine Partituren – Wagner, Verdi, Strauss – und sucht nach einem Lager. Ein Freund bietet ihm seinen Estrich an. Junyent füllt Kartonschachteln und bringt sie dorthin. Später zieht der Freund aus, macht mit dem Nachmieter aber ab, dass der Souffleur seine Noten weiterhin im Estrich einstellen darf.

«Mea culpa», sagt Vladimir Junyent in einem Café neben dem Probesaal. Er sei naiv gewesen und habe gedacht: Alles wunderbar, die Noten sind sicher. Doch als der Nachmieter diesen Sommer ausgezogen sei, habe dieser die Musikbücher ins Brockenhaus gebracht. Junyent hatte seither keinen Kontakt mit ihm. «Wieso auch? Was soll ich ihm sagen?» Er werfe sich selbst vor, die Noten, die ihm so viel bedeuten, nicht gut genug beschützt zu haben. Auch auf das Brockenhaus könne er nicht wirklich böse sein. Klar hätten sie seinen Namen, der bestimmt hundertmal in den Büchern stand, kurz googeln können, sagt Junyent. Aber dieser Gedanke bringe jetzt auch kein Buch zurück.

3. Akt, November 2020

Nach zwei Tagen, in denen er niemandem vom Verlust der Noten erzählt, spricht Junyent mit Freunden und der Familie darüber. Auf Facebook startet er einen Aufruf: «ZÜRCHER FREUNDE, BITTE TEILEN». Dann fährt er zurück ins «Bücher-Brocky» an der Bederstrasse, das neben Krimis und Gartenbüchern auch Secondhand-Partituren verkauft. Der Verkäufer erklärt dem Souffleur, dass er sich noch gut an die vielen Bücher mit seinem Stempel erinnere. Eine Person, die er noch erkennen würde, habe einen grossen Teil der Sammlung gekauft. Auf Facebook meldet sich eine Frau bei Vladimir Junyent. Sie habe ein Buch von ihm zu Hause: eine Partitur von Pietro Mascagni. Sie gebe sie ihm zurück und wolle kein Geld dafür.

«Da kam Hoffnung auf», sagt Vladimir Junyent im Café. Doch ein Buch von total 300, das sei auch nur ein Tropfen im Ozean. Am meisten vermisst er nicht die teuren Partituren – Noten von Benjamin Britten für 400 Euro –, sondern jene, die ihn an früher erinnern. «La Bohème» von Giacomo Puccini zum Beispiel. Dieses Stück hat ihm seine Mutter in Barcelona zum zwölften Geburtstag geschenkt. Es war für ihn der erste Einblick in die Welt der Oper, dieses Zusammenspiel zwischen Musik und Theater, in das er sich verliebte. Seine Eltern, die als Kommunisten gegen den Diktator Franco aufbegehrten, taten Opern als Unterhaltung für die Bourgeoisie ab. Doch Vladimir, nach Lenin benannt, ging ans Konservatorium und lernte im Opernhaus Liceu das Handwerk des Souffleurs. Heute spricht er neben seiner Muttersprache Katalanisch sechs weitere Sprachen. Im Opernhaus Zürich soufflierte er auch tschechische und russische Opern. Junyent ist einer von vier «Maestri suggeritore».

Um den Sängern auf der Bühne den Einsatz für die Musik zu geben, brauche er seinen ganzen Körper, sagt Vladimir Junyent. Ob er zeigen könne, wie das aussieht? Es sei schwer vorstellbar. «Hier im Café ist mir das peinlich», sagt Junyent. Draussen vielleicht oder im Proberaum.

Später sitzt er auf dem Stuhl, von dem er jeweils die Proben souffliert, spielt auf seinem Smartphone ein Stück aus Giacomo Puccinis «La Bohème» an, «die Scheiss-‹Bohème›», sagt er, die Noten – sie könnten überall sein. Junyent tut jetzt so, als ob er die Sänger direkt anschaue, als ob hinter ihm das Orchester spiele. Mit den Händen wedelt er, sein ganzer Oberkörper wankt im Takt, er murmelt Textfetzen: «la banca», «guardare». Bei der Aufführung sitzt er dann in einer kleinen Kapsel. Auf Augenhöhe tanzen die Sängerinnen über die Bühne und retten sich mit seinen Anweisungen, wenn sie patzen. Die Zuschauer sehen Vladimir Junyent nie.

Wie die Musik der Oper habe er auch den Verlust der Noten körperlich gespürt, sagt Junyent. In der Nacht wälzte er sich. Das Essen fiel ihm schwer. «Ich würde es am ehesten mit dem Gefühl vergleichen, als meine letzte Beziehung endete», sagt er. Etwas, das zu seinem Leben gehörte, ist plötzlich weg. Wie wichtig ihm die Bücher sind, habe er erst jetzt gemerkt. «Und das, obwohl ich den Saft, die Essenz der Bücher, ja eigentlich ausgepresst habe», sagt Junyent.

Er habe auch widersprüchliche Gedanken gehabt. Gerade kürzlich hat er nämlich darüber nachgedacht, wie schön es wäre, ein paar Bücher zu entsorgen. «Wieso hänge ich an meinen alten Büchern, in denen ich jahrelang nicht mehr geblättert habe?» Es sind solche Fragen, die sich Vladimir Junyent in den vergangenen Tagen gestellt hat. Seine zeitgenössische Tragödie ist noch nicht fertig geschrieben.