Der Kopf schlägt auf – und nichts ist mehr, wie es einmal war

Der Kopf schlägt auf – und nichts ist mehr, wie es einmal war

Anita wurde von einem Pferd abgeworfen, Alina von einem Bus angefahren – beide erlitten eine Hirnverletzung. Sie veränderte das Leben der zwei jungen Frauen auf sehr unterschiedliche Weise.

In Bristol habe sie das Glück geschüttelt, sagt Alina. «Lass uns zum Queen Square fahren», sagten ihre neuen Freunde aus der Sprachschule, und eine Viertelstunde später sass sie im Kreis auf der Wiese, mit 16, ein Schlangenring am Finger, ein Bier in der Hand und am Himmel viele Heissluftballone, die wie die Musik von Portishead zur Stadt im Südwesten Englands gehören. Der Alltag, St. Gallen, der Unterricht am Gymnasium: alles weit weg.

Alina, die sich selbst als naiv bezeichnet; Alina mit dem orangen Haar; Alina, die sich gerne Kuriositäten vorstellt, etwa, wie es wäre, wenn alle Regentropfen gleichzeitig von den Wolken auf die Erde klatschten – sie ist zum ersten Mal allein von zu Hause weg. Zehn Wochen. Bis in der achten eine Strasse kommt.

Alina läuft über einen Fussgängerstreifen. Ein Auto hupt, so erzählt sie es heute. Sie dreht sich um. Ihre Jacke liegt auf der anderen Strassenseite, sie geht zurück, hebt sie auf. Dann schaut sie nach links. Rennt los. Der rote Bus braust von rechts heran.

Anita, 38, ist gerade aufgestanden und fragt: «Wo ist dein Reh? Du bist doch Reh-porter?» Ihr Name ähnelt dem von Alina, doch sie führt ein ganz anderes Leben. Eine Betreuerin der Wohngruppe Phönix hat Anita vom Bett in den Rollstuhl geholfen – und beim Anziehen: Crocs, Trainerhose. «Wie heisst der Bodensee auf Englisch? Dürfen Veganer Schmetterlinge im Bauch haben? Was liegt zwischen Dortmund und Oerlikon?», fragt Anita. Sobald sie die Antwort verraten hat, bricht ein Kichern aus ihr heraus. Sie verkrampft sich. Ihre Arme zittern unkontrolliert.

Auf Anitas Schreibtisch liegt ein Büchlein. Mit Neocolor hat sie einen Bauernhof gemalt und Bilder von Schweinen mit einem Leimstift eingeklebt. Die Tiere hat ihre Maltherapeutin aus einem Heftli ausgeschnitten, mit ihrer gelähmten Hand sei das schwierig, sagt Anita. Ihre Maltherapie findet im Wohnheim Sonnenrain in Zihlschlacht im Kanton Thurgau statt – wie auch ihr ganzes Leben. Anita und 42 andere Erwachsene mit einer Hirnverletzung wohnen hier.

Im künstlichen Koma

Alinas Mutter kocht gerade für eine gute Freundin, als das Telefon klingelt, so erzählt sie es. Eine Frau von der Sprachschule in Bristol ist dran: Ihre Tochter liege im künstlichen Koma. Schädel-Hirn-Trauma. Sie ruft das Oxford University Hospital an. «Was soll ich machen?», fragt sie, wenn Alina im Koma sei, könne sie ja gar nichts beitragen. «In den nächsten Flieger steigen», sagt die Ärztin, und so landet die Mutter am Freitagmorgen in London, Taxi nach Oxford, Dokumente ausfüllen, Desinfektionsmittel, Alina.

Im Spitalzimmer habe sie Alinas Füsse massiert, sagt die Mutter. Auch Alinas Vater kommt auf die Intensivstation. Ihre Eltern leben getrennt, doch jetzt erinnern sie sich am Bett gemeinsam an früher, an Alina, müssen auch mal über die Zehennägel ihrer Tochter lachen. Verhaltensstörung, epileptische Anfälle, Querschnittlähmung – die Ärztinnen hätten sämtliche Krankheitsbilder um sich geworfen, um Alinas Zukunft zu skizzieren. Sie habe vor allem gehofft, dass sich die Persönlichkeit ihrer Tochter nicht verändere, sagt die Mutter.

Zwei Wochen bleiben die Eltern in Oxford. Alina wache nicht so schnell aus dem künstlichen Koma auf, wie sie sollte, sagen die Ärzte. Dann aber, sie drückt die Hand der Mutter, die Augen zucken. Mit der Rega fliegt die Familie zurück in die Schweiz. Alinas Freundin besucht sie im Spital St. Gallen, umarmt sie, muss «voll usebrüele», wie sie sagt. Alina konnte sie alles erzählen – und jetzt liegt ihre Freundin da, bewegt den Mund und kann doch nichts sagen, vollgetankt mit Medikamenten, und das mit 16 Jahren.

Der Jassfreund

Im Wohnheim Sonnenrain küsst ein Mann mit Strohhut und gelber Krawatte Anita auf die Wange. Manchmal jassen sie zusammen, Anita klappt dann ihren hölzernen Meter aus, steckt die Karten zwischen die Ritzen und spielt einhändig. Wenn er ihre Trümpfe sehe, dann sage er das, sagt Anita. Doch gespielt werde erst später, den Morgen verbringe sie jeweils in der «B+A», Beschäftigung und Arbeit, sagt Anita. «Jetzt ist doch Morgen, oder?»

Ein Betreuer im Atelier presst giftgrüne Farbe auf einen Teller. Anita bepinselt damit eine Heuschrecke aus Holz, daneben spiesst eine Frau Plastikringe auf einen Stern, reibt ein Mann ein Schleifpapier an einem Holzblock. Immer wieder unterbricht Anita die Arbeit, erzählt einen Witz. Wenn sie etwas machen müsse, was sie nicht will, sei sie auch schon ausgerastet, sagt Anita. Ende der Woche bekommt sie als Lohn etwa acht Franken. Das reiche für ein Glace im Restaurant Löwen mit ihrem Jassfreund.

Was ist normal?

Alina denkt in der Rehaklinik nach ihrem Unfall manchmal, sie sei immer noch in Bristol, auf dem Queen Square. Zeit, Datum: keine Ahnung. Weil sie in der Nacht aus dem Bett steigt, muss sie in die geschlossene Abteilung wechseln. Kameras überwachen sie. «Ein schrecklicher Ort», sagt die Mutter und beschwert sich beim Personal. Wenigstens ein paar Spiele müsse es hier doch geben. «Kommst du morgen wieder?», fragt Alina.

Sitzen, Puzzle spielen, kauen, Schuhe binden – alles das muss Alina neu lernen. Das Leben ihrer Mutter stand in dieser Zeit still, wie sie sagt. Keine Zeit für Hobbys und den Garten. Später wechselt Alina in die Kinder-Reha in Affoltern und wohnt fortan in der Wohngruppe Elefant. Mehr Skilagerhaus als Boutiquehotel, keine silbernen Hauben über dem Essen, dafür farbige Wände und ein Pingpongtisch. Die Reha stellt sie sich als Maschine vor, die alle Menschen wieder gesund macht. «Wie lange bleibe ich hier?», fragt Alina. «Vielleicht einen Monat», sagt ihre Mutter.

Schädel-Hirn-Trauma – das Wort ist so kompliziert, dass Alina es zuerst nicht aussprechen kann. Ihre Mutter sagt, das Hirn sei wie ein Ozean. Wörter, die sie nicht oft brauche, seien durch den Unfall im Meeresgrund versunken. Geläufigere Wendungen – «I go is Bett» – schwimmen derweil an der Oberfläche, einfacher erreichbar.

Alina trainiert. Physiotherapie, einkaufen, Sporttherapie, backen, mit den Hunden raus, klettern. Ihre beste Freundin besucht sie nie in Affoltern. Es sei schwierig gewesen, Alina so zu sehen, sagt sie. Im Herbst erhält Alina einen schlechten Bericht von ihren Therapeuten in der Rehaklinik. Sie habe gedacht, sie habe versagt, sagt sie. Ihre Freunde in St. Gallen gehen ans Open Air und bereiten sich auf die Matura vor, und sie muss mit 16 lernen, wie man einen Bleistift hält, und wird dafür kritisiert. «Was ist normal?», darüber diskutiert sie oft mit den Jugendlichen in der Wohngruppe Elefant. Als ein Junge die Kinder-Reha verliess, habe er weinen müssen, sagt Alina. Er verabschiedete sich nicht nur vom Plüschesel, der rumsteht, vom Mädchen mit den eingegipsten Beinen und von ihr, sondern vor allem vom Gefühl, angenommen zu sein, wie man ist.

An den Wochenenden darf Alina jeweils nach St. Gallen. Sie ist überfordert, schon am Zürcher Hauptbahnhof. Ächzende Schienen, hektische Menschen – viel zu viel für Alinas Kopf, so erinnert sie sich. Um ihre Freunde zu treffen, hat sie anfangs keine Energie. Zu Hause löst sie Aufgaben vom Gymnasium. «Um den Anschluss zu schaffen», sagt die Mutter. Die vielen Tulpen und Pralinés hätten sie gestört, sagt Alina. Menschen, die sie gar nicht richtig kannten, beschenkten sie.

Ernstgenommen werden

«Wie heisst der Bodensee auf Englisch?», fragt Anita am Mittagstisch, manche Witze hören die Betreuer immer und immer wieder. Mit einem Messer, das einer Sense gleicht, zerkleinert sie den Broccoli, spiesst ihn auf eine Gabel, die vertikal am Teller befestigt ist. Dann schnäuzt sie in ein Taschentuch, lässt dieses im Ärmel ihrer Bluse verschwinden, rollt in Richtung Mittagsschlaf. Eine Betreuerin, die Anitas Einlagen gewechselt hat, verlässt das Zimmer mit einem Plastiksack. «Hier werde ich ernst genommen», sagt Anita.

Beim Tanzen taumeln

Von der Kinder-Reha in Affoltern hat Alina genug. Das Schwimmen im Therapiebad wird öde, die ewig gleiche Rakete und der Pinguin an der Wand, erinnert sie sich. Aus dem Monat, den ihre Mutter versprach, sind fünf geworden. Als Alina in der Wohngruppe die Kleider in ihre Koffer stopft, regnet es draussen, Januartag, so erzählt sie es. Im Restaurant Hiltl darf sie ihren Teller so oft füllen, wie sie mag.

Nach den Winterferien kehrt Alina ans Gymnasium zurück. Ein halbes Jahr Schulstoff hat sie verpasst, doch sie will direkt zurück in die alte Klasse. Verbissen sei sie gewesen, sagt ihre Mutter. «Ich dachte, alles sei gleich wie früher», sagt Alina. Beim Tanzen im Turnunterricht taumelt sie, nach der Physikstunde muss sie sich die Notizen von den Kollegen holen. Auch zu Hause ist es nicht einfach. «Wo gehst du hin? Wer kommt mit?», fragt ihre Mutter. Alina fährt ohne Helm Velo, obwohl sie immer noch Mühe mit dem Gleichgewicht hat.

Alinas beste Freundin hat in diesem halben Jahr neue Freundinnen kennen gelernt, ist mit ihnen verreist. «Ich fühle mich nicht mehr richtig dabei in St. Gallen», sagt Alina. «Es war hart, das zu hören», sagt ihre beste Freundin. Vor den Sommerferien macht die Klasse einen Ausflug in die Berge. Alina darf nicht mit, ihre Lehrer sagen, der Grat im Alpstein sei für sie zu gefährlich. «Was bringt das Leben überhaupt?», fragt sich Alina. Solche Gedanken habe sie von ihrer Tochter noch nie gehört, sagt ihre Mutter.

Schnippen lernen

Anita, der zu jedem Thema ein Scherz einfällt, war immer mal wieder bei einer Psychiaterin. Geholfen habe ihr auch der Glaube an Gott, sagt sie. «Und ich bin nicht nachtragend, denn das bringt nichts. Jemandem etwas nachzutragen, ist doch doof. Und ich bin zu faul dafür.»

Kürzlich hat eine Freundin Anita besucht, mit ihr Backgammon gespielt und von ihren Buben erzählt. Sie selbst werde wahrscheinlich nie Kinder bekommen können, sagt Anita, doch sie habe ein Gottikind. Vor ihrer Hirnverletzung habe sie oft Sport gemacht. Minitriathlon. Langlaufen im Goms. Anita besass ein Mountainbike, ein Rennvelo und ein Tourenbike. Einmal sei sie von Winterthur bis nach Genf geradelt.

Ihr Betreuer schiebt Anita mit dem Rollstuhl in den Bus, hat Mühe, die Gurte zu befestigen, «i chum Vögel über». «E ganzi Voliere», sagt Anita, dann fahren sie los zur Migros, einkaufen für Anitas Wunschmenü: Prussiens mit Rohschinken. Sie weigert sich, eine Maske anzuziehen; kurzer Zwist mit ihrem Betreuer. Mit ihrem Rollstuhl löst sie später zwischen den Regalen einen Stau aus. An der Kasse bittet Anita ihren Betreuer um ein Schoggibrötli. «Wir müssen los», sagt dieser.

Ein grüner Fleck

Seit eineinhalb Jahren ist Alina nun wieder zu Hause. Als ihre Therapeutin im Spital St. Gallen fragt, was ihr gerade Mühe mache, muss sie überlegen. Seit sie das Schuljahr repetiert habe, komme sie im Gymnasium gut nach und lerne immer noch Neues, sagt Alina. Seit kurzem kann sie wieder mit dem rechten Finger schnippen. Und auf dem Smartphone löscht sie Apps mit zwei kurz aufeinanderfolgenden Klicks. «Tictic», sagt Alina.

Dann tastet die Therapeutin Alinas kurzes Haar ab, streicht mit einem Wattestäbchen eine mintfarbene Paste auf die Punkte, an denen sie die Hirnströme messen will. Ein Video startet. Immer wenn ihre Hirnfrequenz zwischen 12 und 15 Hertz bleibe, konzentrierter Entspannungsmodus, laufe der Film, sonst stoppe er, sagt die Therapeutin. Später noch die Wahrnehmung trainieren. Drei Dinge, die Alina spürt: ihre Hände, ihre schwitzigen Füsse und die Lunge. Sie pumpt.

Öfters hat Alina die Therapie vergessen. Den nächsten Termin schreibt sie in ihre Papieragenda ein. Dort ist auch jeden Mittwoch ein Feld hingekritzelt, Essen mit ihrer besten Freundin. Obwohl: Die Bezeichnung «beste Freundin» sei nicht mehr so wichtig, sagt Alina. Sie beide hätten jetzt stärker ein eigenes Leben.

Eine Woche später wickelt Alina in einem Park dunkles Brot aus einem Bienenwachspapier, tunkt es in eine Avocado-Balsamico-Mischung. Wie hat sie der Busunfall in Bristol verändert?

Sie sei weniger leichtsinnig, sagt Alina. «Das Leben ist so krass.» Und das einzig Wichtige in diesem Leben seien doch die Gesundheit und die Liebe, nichts anderes. Jeder versaute Test, jeder verpasste Zug – alles scheissegal. «Viele checken nicht, was für ein Glück sie haben», sagt Alina. Zum Beispiel Treppensteigen. «Wir laufen einfach, denken, das sei normal. Aber das ist nicht normal, überhaupt nicht.» Nebenan im Park knabbert eine Taube an einem Bürli, trinkt ein Mann Starkbier. «Alina ist viel gelassener als ich», sagt ihre Mutter. «Alina macht sich verrückte Gedanken», sagt ihre Freundin.

Wenn Alina im Gymnasium ein Blatt abzeichnen muss, dann kann sie nicht jede Ader nachahmen, es wird eher ein grüner Fleck, und wenn sie schreibt, dann nicht mehr so schön wie früher, sondern hässlich und langsam, wie sie sagt. Sie lässt zu Hause häufiger einen Teller fallen. Sie vergisst Wörter. Sie lernt langsamer. Und sie kritisiere andere und alles viel stärker als früher, sagt Alina. Beim Zmittag im Park vergisst sie die Zeit, noch vier Minuten, bis die Lektion startet, ein Bonbon zwischen die Zähne, «tschau».

Ein Herz auf dem Finger

Ein realistisches Porträt hängt an Anitas Tür, zweithinterstes Zimmer der Wohngruppe Phönix. Sie habe es früher gemalt, sagt Anita. Früher, das heisst für sie vor dem 8. Oktober 2007. An diesem Tag hat ihre Cousine angerufen und gefragt, ob sie am Abend gemeinsam ausreiten wollten, auf einen Hügel bei Winterthur. Anita konnte nicht gut reiten, aber sie war gerne draussen und mochte ihre Cousine, so erzählt sie es. Also sagte sie Ja.

Was genau passierte, weiss Anita nicht, weder ob sie galoppiert sind noch wie das Pferd sie abgeworfen hat. Ein Landwirt, der den Unfall beobachtete, habe die Ambulanz gerufen. Anitas Reithelm war unbeschädigt. Im Spital sahen ihr die Ärztinnen nichts an, keine Schürfungen. Dann entdeckten sie die Hirnblutung.

Ein tätowiertes Herz ziert Anitas linken Ringfinger, ein «G» drin. Neun Monate vor dem Reitausflug hat sie geheiratet. Ihren Mann habe sie nicht wiedererkannt, als sie aufwachte, sagt Anita. Er half ihr in der Rehaklinik beim Laufen, doch irgendwann lernte er eine neue Frau kennen – und hat jetzt mit ihr zwei Kinder. Letzte Woche hat er Anita seit langem wieder einmal besucht, wie sie sagt.

«Was liegt zwischen Dortmund und Oerlikon?»

Text im Tages-Anzeiger