«Ich war eine Herausforderung», sagt der ewige Sozialdemokrat
Ein Schweizer Polit-Fossil tritt ab. Seit 1986 war er im Parlament. Christoph Blocher nannte ihn einen «Erzlinken», eine Klimaaktivistin staunt heute über ihn. Was bleibt von Paul Rechsteiner?
«Sprechen Sie es einfach aus! Was ist Ihre Aufgabe als Leiterin von diesem verdammten Zukunftsministerium?»
Das sagt Paul Rechsteiner nicht. Er hat es gelesen.
Eigentlich mag der 70-Jährige keine Science-Fiction. Aber den Bestseller «Das Ministerium für die Zukunft» von Kim Stanley Robinson verschlang er – und verschenkt ihn seither an vielen Geburtstagen. Im Buch sterben Menschen bei einer Hitzewelle in Indien. Die angestrebte Lösung zur Bekämpfung der Klimakrise: institutionelle Politik. Klingt für viele so langweilig wie Spaghetti Napoli, ist aber Rechsteiners Mantra. Muss es ja. Wie sonst hätte er es 36 Jahre in Bern ausgehalten?
«Nichts führt am politischen Handeln vorbei.» Ein klassischer Rechsteiner-Satz. Er wiederholt ihn beim Interview in seiner St. Galler Anwaltskanzlei. Wird der ehemalige Gewerkschaftsboss konkreter, klingt Politik bei ihm dann so: «Do hemer e Gschicht gschnürt.» «D Achs het ghebet.» «Das hämmer duretankt.» «Do simmer gwaltig uf de Sack keit.»
Kann er loslassen?
Jetzt schnürt der SPler keine Geschichten mehr. Von Tschernobyl bis zum Ukraine-Krieg war der amtsälteste Parlamentarier in Bern. Mehr als sein halbes Leben. Im Dezember trat Rechsteiner zurück. Ende April wird in St. Gallen eine neue Ständerätin gewählt.
Kann Paul Rechsteiner loslassen? Und wie gelang es ihm, trotz ultralinken Positionen Mehrheiten zu schaffen?
Thuraya Abbass weiss von Paul Rechsteiner, dass er ein politisches Urgestein ist und dass er einen Schnauz hat. Die St. Galler Klimaaktivistin ist 16 Jahre alt und geht ans selbe Gymnasium wie Rechsteiner vor über 50 Jahren. «Ich staune über seine Hartnäckigkeit und dass er bei Rückschlägen nie verzweifelt», sagt Abbass. Die institutionelle Politik ist ihr aber zu langsam. Weder dem Schweizer Parlament noch einem Zukunftsministerium traut sie zu, die Klimakrise zu lösen. Paul Rechsteiners Science-Fiction-Heldin Mary Murphy sagt dazu:
«Ich glaube an die Kraft der Gesetze.»
Rechsteiner würde Thuraya Abbass ähnlich antworten, nur trockener. Es brauche Fantasie in der Politik, sagt er. Megaprobleme zerhackt Rechsteiner in politische Schnittchen, in «Gschichte», die er schnüren kann. Und wenn er sich durchtankt, dann zelebriert er das. Ohne Pomp. «Paul ist kein Partytiger», sagt Hans Stöckli, ehemaliger SP-Kollege im Ständerat. Und doch feierte er die kleinen Schritte.
«Sie sind eben nicht klein!», sagt er. Nüchtern hat Rechsteiner in seiner Anwaltskanzlei eine Stunde über die Französische Revolution geredet, über Elon Musk und Elisabeth Kopp. Jetzt spricht er wie ein Trainer-Fuchs in der Kabine, der sein Fussballteam anpeitscht, obwohl es zur Pause 0:3 hinten liegt. «Es gibt immer wieder Durchbrüche und Überraschungen», sagt Rechsteiner, obwohl er mit seinen linken Positionen eigentlich immer in der Minderheit war. «Ich merkte, dass ich etwas bewegen kann.»
Er meint damit nicht nur die Stärkung der AHV, sondern auch die UNO-Menschenrechte, welche die Schweiz ratifizierte. Rechsteiner hat dies als Präsident der schweizerischen Anti-Apartheid-Bewegung vorangetrieben. Auch bei der Abschaffung des Saisonnierstatuts spielte er eine wichtige Rolle und kämpfte gegen die Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten. Zudem hat sich Rechsteiner für die Rehabilitierung von Paul Grüninger eingesetzt. Der St. Galler Polizeikommandant rettete vor dem Zweiten Weltkrieg jüdischen Flüchtlingen das Leben, indem er gegen das Gesetz verstiess und sie über die Grenze liess.
«Ich liebe seinen Optimismus», sagt Tamara Funiciello (SP), mit knapp vier Jahren erst ein Achtel von seiner Amtszeit im Nationalrat. Sie selbst frage sich «aube scho», ob die Arbeit im Parlament die sozialen Anliegen wirklich weiterbringe. Rechsteiner hingegen zoome raus und sage dann: «Schau, was wir alles erreicht haben.»
Erfolg im Bundeshaus hatte Rechsteiner, weil er trotz linker Ideologie mit politischen Gegnern zusammenarbeitete und Kompromisse schnürte. Als Schattenregierung wurden er und andere Ständeräte zeitweise bezeichnet.
«Auf ihn konnte ich mich verlassen. Es gab nie Manöver», sagt der ehemalige Luzerner CVP-Ständerat Konrad Graber. Paul Rechsteiner habe genau gewusst, wie der Kuhhandel laufe und mit wem er sich verbünden müsse. Die Fäden habe er dabei immer in der Hand gehabt. «Rechsteiner hat ein Elefantengedächtnis», sagt der Bündner Mitte-Ständerat Stefan Engler. Er habe immer schon gewusst, was in der übernächsten Kammer passieren werde. Und SVP-Ständerat Alex Kuprecht aus dem Kanton Schwyz, Erzfeind bei der AHV, beschreibt den Umgang als sehr kollegial. «Rechsteiner hat sogar gelernt, eine Krawatte zu tragen», sagt er.
Einer der linksten Parlamentarier
Den Halsschmuck trug Rechsteiner lange nicht, weil er in Bern «die Menschen ohne Krawatte repräsentieren wollte». Bis zur Corona-Pandemie fuhr er trotz 1.-Klasse-GA stets in der zweiten Klasse nach Bern.
Rechsteiner wuchs in einfachen Verhältnissen im Quartier St. Fiden am Rand von St. Gallen auf. Als er in der Sekundarschule den Beruf seines Vaters nennen musste, mogelte er. Sein Vater war Magaziner, seine Mutter Putzfrau. Rechsteiner las als Jugendlicher Karl Marx, hörte die Rolling Stones, studierte Rechtswissenschaften und schaffte es mit 25 für die SP ins Stadtparlament.
Im Nationalrat war er stets einer der linksten Politiker. 2011 dann die Sensation. «Der Mann, der die Rechten knackte», titelte «Das Magazin». Der eher konservative Kanton St. Gallen wählte Paul Rechsteiner in den Ständerat, ihn, den Christoph Blocher als «ein Erzlinker, geradezu ein Kommunist», bezeichnete. 1000 Stimmen mehr als Toni Brunner erhielt Rechsteiner.
Der Journalist Ralph Hug hat ein Buch über «das Wahlwunder in der Ostschweiz» geschrieben. Seine These: «Paul Rechsteiner schaffte es in den Ständerat, weil er den Cüpli-Sozialismus ablehnte und weiterhin seine gewerkschaftlichen Überzeugungen statt seine Person in den Vordergrund stellte.» Es gibt keine Rechsteiner-Homestorys und auch keinen Rechsteiner-Instagram-Account. Ratskollegen sagen, dass er sehr zurückhaltend sei und nie in Bern übernachtet habe. «Mit Rechsteiner trinkt man kein Bier, man macht eine Sitzung», sagt Konrad Graber.
Im Talk bei Roger Schawinski klang das im Wahlkampf 2011 dann so: «Herr Rechsteiner, wer sind Sie?» – «Ich bin ich.» Als der Moderator später nachhakte, sagte Rechsteiner: «Wir sind hier nicht bei einem Innerlichkeitsseminar.» Politik sei eine ernsthafte Sache. Und schliesslich zum Vorwurf der Humorlosigkeit: «Ich bin sicher kein Mitglied der Spassgesellschaft, aber auch keines der Sauren-Most-Fraktion.»
In seiner Anwaltskanzlei in St. Gallen sagt Paul Rechsteiner, dass ihm das Fotografieren unwohl sei. Am liebsten verstecke er sich jeweils vor seinen Büchern und hoffe, dass diese ablenkten. Im Gespräch zitiert Rechsteiner oft. Zum Beispiel so: «De israelischi Sozialphilosoph Avishai Margalit, kennet Si de?» Dann folgen fünf Minuten Monolog. Und schliesslich entschuldigt sich Rechsteiner für «de riese Boge».
Rechsteiners Polit-Tipps
«Es gibt keine Ausbildung, wie man ein Parlamentarier wird, der etwas zu melden hat», sagt Rechsteiner. Und er wolle auch niemanden belehren. Doch zwischen Immanuel-Kant-Zitaten (Urteilskraft!) und historischen Zeitreisen versteckt Rechsteiner doch noch einige Polit-Tipps:
- «Beobachten. Zuhören. Mitdenken, was andere bewegt und nach welchen Logiken sie handeln.»
- «Die wichtigen Debatten führen und sich nicht von den künstlichen Aufregungen verunsichern lassen.»
- «Sich mit kritischen Personen austauschen und so die eigenen Argumente testen.»
In seiner letzten Session im Dezember sagte Paul Rechsteiner im Ständerat: «Wenn es jetzt aber darum geht, dass namentlich Herr Kollege Caroni von einer Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt nichts wissen will, dann muss man sich schon fragen, in welcher Welt er lebt …»
Der angegriffene FDP-Ständerat störte sich an diesem Umgang. «Bei all seinen grossen Qualitäten: Paul Rechsteiner hat Leute mit anderen Meinungen manchmal unnötig herablassend behandelt und ihnen finstere Absichten unterstellt», sagt Andrea Caroni. Weil er im Parlament alles schon fünfmal erlebt habe, sei Rechsteiner im Ständerat zum belehrenden Altherren geworden. Vielleicht liesse sich das nach 36 Jahren Bundeshaus nicht vermeiden, sagt Caroni. Jedenfalls: «Der junge Rechsteiner hätte sich über den älteren Rechsteiner wohl auch genervt.»
Auch andere Parlamentarier empfanden Paul Rechsteiner teilweise als schulmeisterlich. Er sei zudem sehr selektiv gewesen im Umgang mit Andersdenkenden. Wenn jemand nur oberflächlich über ein Thema informiert gewesen sei, habe er manchmal die kalte Schulter gezeigt.
Mit dieser Kritik konfrontiert, wird Paul Rechsteiner in seiner Anwaltskanzlei kurz ruhig. «Da kann ich wahrscheinlich nicht viel dazu sagen», meint er und flüchtet dann zu seinem liebsten Thema: den Sozialversicherungen.
Vor drei Jahren, als die AHV-Reform scheiterte, da habe er seine grösste Niederlage erlebt. «Danach habe ich bei diesem Thema eine gewisse Härte entwickelt und wurde schärfer», sagt Rechsteiner. Nicht nur soziale Gründe sprächen für die AHV, «dieses geniale System», sondern auch politische Vernunft, Ökonomie, Mathematik. Er habe versucht, seine Argumente zu dosieren, sagt Rechsteiner. «Aber ich habe gemerkt, dass ich politischen Gegnern manchmal den Ersatznerv ausgerissen habe und sie mich nicht mehr ertrugen.» Viele hätten nicht mehr zugehört oder den Saal verlassen. «Ich war eine Herausforderung», sagt Rechsteiner.
Jetzt ist er nicht mehr in Bern. Diesen März versenkte der Ständerat eine Sonderzulage für AHV-Rentnerinnen mit 20:21 Stimmen. Paul Rechsteiner hätte das verhindern können, doch er trat schon im vergangenen Dezember zurück, um Barbara Gysi von der SP bessere Chancen bei der Wahl zu ermöglichen.
Mary Murphy vom fiktiven Ministerium für die Zukunft dachte folgendermassen über das Ende ihrer politischen Karriere nach:
Sie erinnerte sich an die grosse Konferenz im Kongresshaus, an das Gewirr von Stimmen, an den gordischen Knoten der Welt. Ihr ganzes Leben hatte sie an diesem gordischen Knoten gezupft und höchstens einen Strang gelöst. Die grössten Probleme waren noch immer nicht behoben.
Abgesehen vom unrechsteinerischen Kitsch dieser Reflexion: Der St. Galler Sozialdemokrat ist im Ablösungsprozess noch nicht so weit. Zum Schluss des Interviews redet er über die Credit Suisse, verspricht, noch sein Votum im Rat von 2010 nach der UBS-Rettung per E-Mail nachzureichen, das immer noch aktuell sei. «Die Sparprogramme bei der AHV stehen im perversen Kontrast zum CS-Debakel», sagt Rechsteiner.
Es klingt, als wollte er am liebsten gleich am St. Galler Bahnhof in den Zug steigen, nach Bern fahren und im Bundeshaus eine Geschichte schnüren.