«A Hörlimään, please!» – Warum Pubs in England Zürcher Bier ausschenken
Der Weg führt in den Londoner Playboy Club, in die Heavy-Metal-Szene und zu einem Mann, der das Logo der traditionsreichen Brauerei Hürlimann auf die Wade tätowiert hat.
Diese Geschichte beginnt in einem dunklen Keller in Brighton in Südengland. Im Komedia gibt es kein Tageslicht, dafür überwältigende Konzerte. Und Bier.
Als ich im vergangenen Frühsommer ein «Lager» bestellte, fragte die Frau hinter der Bar: «A Hürlimann?»
«A what?», fragte ich.
«Hörlimään», wiederholte sie.
«Sure», stammelte ich und war verwirrt. Ein Blick auf den Zapfhahn mit dem rot-weissen Logo nahm mir die letzten Zweifel. «ORIGINAL SWISS LAGER» stand dort. «EXPORT BEER». «4.8%».
Warum wird ein Zürcher Traditionsbier, dessen Marke in der Schweiz verblasst, in einem englischen Pub ausgeschenkt? Diese Frage liess mich nicht mehr los.
Im Feldschlösschen auf der Spur
Wenn der Name Hürlimann fällt, denken junge Zürcherinnen und Zürcher oft an den Dachpool und das Spa auf dem Areal der ehemaligen Brauerei. Denn im Enge-Quartier wird seit 25 Jahren kein Bier mehr gebraut. 1996 schluckte Feldschlösschen die Zürcher Brauerei und produzierte das Hürlimann-Bier fortan in Rheinfelden im Kanton Aargau.
Der Sache mit England und Hürlimann müsse man nachgehen, schreibt eine Sprecherin von Feldschlösschen auf Anfrage, sie werde sich darum kümmern. Lange Stille. Dann eine E-Mail. Ich dürfe ins Schlösschen kommen. Claude Preter empfange mich, ein Regional Sales Manager. Er sei Mitglied der Schweizer Bier-Sommelier-Nationalmannschaft. Und vor allem: «ein Hürlimann-Fan».
Das ist untertrieben. Beim Treffen in Rheinfelden krempelt der 46-Jährige seine Jeans hoch und entblösst das Hürlimann-Tattoo auf seiner rechten Wade.
Claude Preter ist mit Hürlimann-Bier in Oberengstringen aufgewachsen. «Als Kind durfte ich vom Schaum meines Vaters probieren», sagt er. Dann, mit 16 – dieses Alter solle ich zumindest in die Zeitung schreiben –, trank er sein erstes Hürlimann an einem Dorffest. Und er liebt es immer noch. Einen vollen Körper habe es, frisch sei es, süffig, gmögig. «Man kann es ewig trinken», sagt Preter.
Dann läuft er über das Feldschlösschen-Gelände. Stolz öffnet er die Tür zur Sudhalle. Mit den Mosaikfenstern wirkt der Raum wie eine Kirche. Feldschlösschen-Bier wird in den Kupferkesseln gemaischt, geläutert und gekocht – aber auch das Hürlimann-Lagerbier für die Schweiz, nach eigener Rezeptur.
Das englische Hürlimann-Bier werde nicht hier produziert, sagt Claude Preter. Die britische Firma Shepherd Neame braue es schon seit den frühen 70er-Jahren im kleinen Städtchen Faversham. «Damals gab es in England nur schweres dunkles Bier, aber kein helles schlankes», sagt Preter. Diese Lücke erkannte die Zürcher Brauerei Hürlimann und exportierte ihr Lagerbier. Später schloss Shepherd Neame einen Lizenzvertrag ab und braute das Bier fortan selbst.
Die Sache mit dem «ü»
Zum Mittagessen setzt sich Claude Preter in die Feldschlösschen-Kantine Schalander, die an einen Dorfspunten erinnert. «Hier in der Firma wissen vielleicht zwei Leute, dass Hürlimann auch in Grossbritannien gebraut wird», sagt Preter und öffnet ein Bier, ein Feldschlösschen.
Er hat noch einen weiteren Verdacht, warum sich sein geliebtes Hürlimann-Bier auf der Insel etablierte: den Buchstaben «ü». Die sogenannten Heavy-Metal-Umlaute seien bei Englischsprachigen beliebt, sagt Preter. Direkt neben seinem Hürlimann-Tattoo hat er sich Sänger Lemmy Kilmister von der Band Motörhead gestochen. Metal-Bands wie diese brauchen gerne deutsche Umlaute für ihre Namen. Sie wollen europäischer wirken – und manchmal auch auf das Kriegerische der germanischen Kultur anspielen.
Er würde sehr gerne mal ein englisches Hürlimann trinken und den Geschmack vergleichen, sagt Claude Preter. Shepherd Neame sei sehr renommiert. «Keine minderwertige Brauerei oder so.»
Damit hat er sicher recht. Die Brauerei in Faversham zwischen London und Dover produziert im Jahr 50 Millionen Pints und ist in England die grösste unabhängige Familienbrauerei. Seit 1698 wird gebraut: Eigenkreationen wie Spitfire Amber zum Beispiel, aber auch internationale Biere wie das thailändische Shingha.
«Wir waren die erste britische Brauerei, die mit dem Hürlimann ein starkes Lagerbier braute», schreibt Kathryn Tye vom Marketing. Das Zürcher Traditionsbier werde in der Brauerei Shepherd Neame immer noch nach dem originalen Rezept und mit Schweizer Hefe hergestellt. Als «tingling lager with a hint of orange and a complex hop character» wird es auf der Website beworben.
Im Container über den Ärmelkanal
Um mehr darüber herauszufinden, wie das Zürcher Hürlimann-Bier nach England kam, gehe ich ins Stadtarchiv Zürich. 1300 Schachteln mit Dokumenten über die ehemalige Zürcher Traditionsbrauerei lagern dort. Die ganze England-Connection beginnt mit einem Mann, den alle nur Bobby nennen. Als junger Mann arbeitet Robert Neame von der Familie der Brauerei Shepherd Neame für einige Zeit in der Firma Hürlimann.
1966 wird am Leicester Square in London das Swiss Centre eröffnet, eine Art Schweiz-Museum mit Fonduerestaurant und Swissair-Schalter. Die Brauerei Hürlimann ist beteiligt und will ihr Bier servieren. Weil sich der Export allein für das Swiss Centre nicht lohnt, denkt die Zürcher Firma grösser. Im Londoner Quartier Soho eröffnet sie ein Verkaufsbüro mit zwei Mitarbeitenden, die Restaurants und Bars vom Hürlimann-Bier überzeugen sollen. Doch die Hürlimann-Aschenbecher und sonstige Werbegeschenke bringen wenig. Die Liste mit Absagen ist lang.
Der Weg nach England führt schliesslich zu Bobby, der mittlerweile bei Shepherd Neame aufgestiegen ist. 1967 geht Hürlimann eine Zusammenarbeit mit der britischen Brauerei ein. Hürlimann füllt ihr Bier in Container und verfrachtet es mit Zug und Fähre über den Ärmelkanal nach Faversham. Dort füllt Shepherd Neame das Lagerbier in Flaschen ab und verkauft es in den eigenen rund 300 Pubs. Ausserdem in Steakhouses, Hotels – und im Playboy Club. «B&B – Bier und Busen» titelt Hürlimann in einer Werbebeilage, die der NZZ im Jahr 1971 beiliegt.
Darin ist folgende sexistische Beschreibung zu lesen: «Die Bunnies kredenzen nebst ihrem Busen auch unser Bier, das renommierte Sternenbräu. So können dort die Gucker, wenn sie zwischendurch (anstatt in den Ausschnitt) tief ins Bierglas gucken, auch noch Sterngucker werden. Another Stern, please!»
Ein eigenes Pub in England
Für 1,3 Millionen Franken kauft die Brauerei Hürlimann The Grasshopper Inn südlich von London. Mit dem Zürcher Fussballclub hat das Riesenpub nichts zu tun. Ein Restaurant, ein Ballsaal, 2000 Parkplätze – es ist ein weiterer Versuch, mit dem Schweizer Bier auf der Insel durchzustarten. «Wir hoffen, dass es nun gelingen wird, die Brauerei Carlsberg als bisherigen Import-Leader in England binnen einiger Jahre zu überflügeln», steht in einem Schreiben, das im Stadtarchiv Zürich lagert. Später wird Feldschlösschen Hürlimann und Carlsberg Feldschlösschen einverleiben.
Doch um 1970 pusht Hürlimann das Exportgeschäft weiter. Robert «Bobby» Neame und sein Cousin Colin laden Martin Hürlimann und Familie nach Faversham ein. Ein Cricketmatch und ein Besuch im Playboy Club stehen auf dem Programm.
Bobby schläft später einmal im Hotel Florida im Seefeld, isst im Haus zum Rüden und schaut sich das Shoppingcenter Spreitenbach und die Rigi an. An einer Pressekonferenz in Zürich stellt er das Abbey Ale seiner Brauerei Shepherd Neame vor, das Hürlimann als Gegenleistung in der Schweiz vertreibt. Er habe sich das Buch «Wie lerne ich Deutsch?» gekauft, sagt Robert «Bobby» Neame in seiner Rede, die im Archiv vorliegt. Unglücklicherweise habe sein Hund das Lehrmittel aber aufgefressen.
Das Hürlimann ist den Briten zu stark
Die Zeit der Witze und der Euphorie endet schliesslich brüsk. Hürlimann schafft es nicht, die Insel mit Zürcher Bier zu erobern. Shepherd Neame und Bobby drohen, selbst ein eigenes Lagerbier herzustellen und das Hürlimann zu konkurrenzieren. 1973 lenkt Hürlimann ein und unterzeichnet einen Lizenzvertrag mit der britischen Brauerei. Die Hürlimann-Geschäftsleitung, die sich aus Qualitätsgründen die Herstellung ihres Biers eigentlich nur in der eigenen Brauerei vorstellen kann, muss ihren Stolz begraben und das Rezept weitergeben. Immerhin überweisen die Briten pro Hektoliter eine Lizenzgebühr nach Zürich.
«Finanziell hat sich das britische Exportabenteuer von Hürlimann nie gelohnt», sagt der Wirtschaftshistoriker und ehemalige Zürcher GLP-Gemeinderat Matthias Wiesmann, der seine Lizenziatsarbeit über die Brauerei Hürlimann verfasst hat. Trotzdem bewundert Wiesmann den Mut der Zürcher Brauerei, den gewohnheitsmässigen Ale- und Stout-Trinkern auf der Insel ein Lagerbier anzubieten, und das auch noch aus der biermässig wenig profilierten Schweiz. Doch die Pioniere aus Zürich-Enge hatten am Ende zu wenig Durchschlagskraft.
Mike Ripley vom britischen Bierbrauerverband schätzte den Marktanteil von Schweizer Bier 1984 in England auf weniger als ein halbes Prozent. Neben Hürlimann versuchte es damals auch Feldschlösschen mit seiner «Hopfenpearl». Die Konkurrenz von englischen, deutschen und skandinavischen Brauereien sei gross, sagte Mike Ripley der Nachrichtenagentur SDA. Engländer könnten Bier nur schwer mit der Schweiz assoziieren. Und: «Durstige Briten trinken sehr viel, aber ihre Biere haben einen relativ geringen Alkoholgehalt. Da die schweizerischen Biere deutlich stärker sind als die etablierten Marken, dürfte mancher Engländer nach ein paar Pints (0,568 Liter) Hürlimann oder Hopfenpearl Mühe haben, seinen Weg aus dem Pub nach Hause zu finden.»
Trotzdem stellt Shepherd Neame auch heute noch Hürlimann-Bier her. Gut 7000 Hektoliter pro Jahr, so schreibt es die Brauerei. Wenn man den grossen britischen Biermarkt anschaut, ist das nicht viel. Zum Vergleich: Die Zürcher Kleinbrauereien Paul und Amboss produzieren ähnlich viel Bier. Turbinenbräu knapp dreimal so viel. Appenzeller Bier oder Feldschlösschen ein Vielfaches mehr.
Doch Shepherd Neame hat in den letzten Jahren das Design aufgefrischt und verspricht nicht weniger als eine Renaissance des «well-loved Swiss lager». Robert «Bobby» Neame und Martin Hürlimann sind beide tot. Das Swiss Centre am Leicester Square ist jetzt ein Hotel. Den Playboy Club gibt es nicht mehr. Doch wer im Prince of Wales in London, im Coastguard in Dover oder im Komedia in Brighton einkehrt, der kann Zürcher Bier trinken. Immer noch. «A Hörlimään, please!»