In Schweden wird Zürich Egoismus vorgeworfen
Das Stadtzürcher Stimmvolk bestärkt das EWZ immer wieder darin, im Ausland Windparks zu kaufen. Doch in Schweden gibt es Widerstand. Zürich wird Egoismus und Greenwashing vorgeworfen.
Er spricht oft und lange über Investments und Portfolio-Effekte, doch dann, unter einem 145-Meter-Windrad in einem schwedischen Wald, wo sich jeder klein fühlt, sagt Hans Gunnervall, was ihn wirklich bewegt: «Greta hat einfach recht.» Gunnervall (48), an diesem Tag bei jedem Sonnenstrahl die modische Sonnenbrille zur Hand, ist beim Elektrizitätswerk der Stadt Zürich so etwas wie das Pendant zum Chefscout des FCZ: Er hält Ausschau nach Windparks, in die das EWZ investieren könnte.
Auf seiner Visitenkarte steht eine kühle Bezeichnung: Leiter Beteiligungen. Doch für Gunnervall ist dieser Job mehr. «Der Klimawandel beschäftigt mich», sagt er bei der Turbine 1 im schwedischen Skalleberg, deren sogenannte Rotorenblätter höher als der Prime Tower in den Himmel ragen. Und: «Wir müssen etwas machen. Jetzt.»
Keine EWZ-Logos in Schweden
Gunnervall und das EWZ versuchen etwas zu machen, indem sie seit 2008 Windräder im Ausland kaufen oder bauen. Viele Windräder. Und immer mehr. 113 Turbinen in insgesamt 19 Windparks produzieren mittlerweile ein Drittel des Stadtzürcher Stroms. Zehn weitere Zürcher-Exil-Windparks sind in Frankreich geplant. «Das ist gut», sagt Hans Gunnervall. «Aber ich habe dennoch Angst, dass der Wandel zu spät kommt.»
Dass das EWZ im Ausland das Zürcher Strom-Portfolio aufgrünt, feiert die Stimmbevölkerung oft mit grossen Mehrheiten ab. Diesen Juni sagten 83,2 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher Ja zum neuen Rahmenkredit für erneuerbare Energien. Die Stadtzürcher Parteien geben sich auf Anfrage euphorisch. «Lieber grüne Energie im Ausland als Kohlekraft oder AKW», schreibt die SP. Wenn Zürich in der Energiewende vorwärtskommen wolle, brauche es ausländischen Ökostrom, so die FDP.
Kritik übt einzig die SVP. Sie kanzelt die Investitionen als grünlinke Feigenblätter ab. Und sorgt sich um die Stromsicherheit sowie politische Risiken.
Dass die zehn gigantischen Windtürme in Skalleberg beim Vätternsee der Stadt Zürich gehören, wird hier nicht gross herumposaunt. Kein EWZ-Logo weit und breit. Auch Hans Gunnervall oder andere Mitarbeiter des EWZ streifen selten durch diese Wälder. Seit dem Kauf des Windparks vor sieben Jahren drehen die Rotorblätter von selbst – grundsätzlich. Denn die Turbine, zu welcher der Zürcher Energiespezialist aufsieht, steht heute still. Er schaut auf seiner App nach: Rot. Fehlermeldung. «Ich weiss nicht, was los ist. So verliert Zürich Energie.»
Hans Gunnervall, der in Schweden aufgewachsen ist und seit dem Gymnasium in der Schweiz lebt, macht gerade mit seiner Familie Ferien auf der Insel Orust, wo er ein Haus besitzt. Am Morgen ist er mit seinem grauen Tesla die drei Stunden zum Windpark gefahren. Er will sich sein Investment fernab von Zürich selbst wieder einmal anschauen. Seit Beginn der Pandemie war Gunnervall nicht mehr hier.
Wieso die Turbine 1 im schwedischen Wald stillsteht, lässt Gunnervall nicht los. Er kramt das Smartphone hervor und ruft die Firma Eolus an, die den Windpark betreibt: «Hej, hej.» Nach einigen Sätzen ist klar: Die Turbine wurde gestern repariert. Jetzt muss das Kunstharz trocknen, bis sie wieder drehen darf.
Bürokratie in der Schweiz
Gunnervall steigt in seinen Tesla und fährt über den Schotter. Während der Fahrt erklärt er, wieso Windräder in Schweden Strom für Zürich produzieren können – trotz 1200 Kilometer Distanz. «Die Elektronen selbst kommen zwar nie an», sagt er. «Doch das ist nicht entscheidend.» Europa sei ein grosser Stromsee. Wichtig sei nur, dass die grüne Energie im gesamten See zunehme. «Und zwar schnell, sonst verpassen alle Länder in Westeuropa die Pariser Klimaziele.»
Beim nächsten Windrad auf einer Anhöhe steigt Gunnervall aus seinem Auto. Ein Windstoss fegt über sein lichtes Haar. Etwa dreimal besser sind die Windverhältnisse in Schweden als in der Schweiz. Das ist der erste Grund, weshalb Zürich die Windräder hier und nicht auf dem Uetliberg oder im Limmattal betreibt. Der zweite ist, dass es in Schweden viel mehr dünn besiedelte Fläche gibt. Und der dritte hat viel mit dem politischen System zu tun.
In der Schweiz verhindern Einsprachen immer wieder Windräder, vor allem von Vereinen, welche die Natur beschützen, und von Anwohnern, die ihre Aussicht und Ruhe behalten möchten. Die Planung des Windparks Mollendruz im Kanton Jura, an dem das EWZ beteiligt ist, startete schon im Jahr 2009. Noch immer wird keine Kilowattstunde Strom produziert. Bald entscheidet das Bundesgericht, ob der Windpark gebaut werden darf.
Nur gut 40 Windräder gibt es heute in der Schweiz. Zum Vergleich: In Schweden planen andere Energiekonzerne als das EWZ gerade das Megaprojekt Markbygden. In fünf Jahren sollen gut 1100 Windräder Strom produzieren. Und das ist nur einer von vielen Windparks. «Der bürokratische Prozess muss auch in der Schweiz schneller werden», sagt Hans Gunnervall. «Sonst kommen wir nirgends hin.»
Im Vergleich zur Trägheit des jurassischen Windprojekts hatte es das EWZ in Skalleberg leicht. Zürich kaufte den pfannenfertigen Windpark inklusive Bewilligung von Eolus ab, einer Firma, die Windparks entwickelt. In Schweden können sich die Menschen zwar auch gegen Windräder wehren. Ihre Chancen sind aber viel kleiner.
Reputationsschaden verhindern
Hans Gunnervall läuft rund um die Turbine, lupft die Plastikkappen von den riesigen Schrauben ab, um zu sehen, ob das Windrad gut gewartet ist. Im Inneren eines solchen weissen Giganten war er bis jetzt erst einmal. Ein Lift führe zu den Rotorblättern hoch, die sich nach dem Wind ausrichten. «Oben auf der Plattform ist es wie auf einem Wolkenkratzer», sagt Gunnervall. «Nur, dass sich das elastische Windrad auch noch bewegt.»
Ihm persönlich gefalle die Ästhetik der Windräder, sagt der Zürcher Wind-Scout. Aber er wohne auch nicht neben einem rotierenden Riesen und werde beim Grillieren durch die Geräusche und den Schattenwurf gestört. Gunnervall glaubt, die Schweizer Abneigung gegen Windkraftwerke habe viel mit Gewohnheit zu tun. «Alles, was neu ist, wirkt beängstigend.» Hochspannungsleitungen seien beispielsweise auch nicht schön. Und doch nehme sie heute fast niemand mehr wahr.
Wenn Gunnervall und sein Team Windparks im Ausland kaufen, stellen sie sich immer auch die Frage: Wie gross ist das Konfliktpotenzial? Denn was der Mann mit der Sonnenbrille unbedingt verhindern will, ist ein Reputationsschaden. Als Negativbeispiel dient ihm das Investment des Berner Energiekonzerns BKW in den norwegischen Windpark «Fosen Vind». 2018 demonstrierten Samen, ein indigenes Volk, plötzlich vor dem BKW-Hauptsitz. Arvid Jama, ein Same, sagte gegenüber SRF zum Schweizer Stromkonzern: «Sie machen alles, um meinen Rentieren den Boden zu nehmen. Das ist neuer Kolonialismus.»
Hans Gunnervall sagt, beim Windpark in Skalleberg habe es keinen organisierten Widerstand gegeben. Klar sei der Windpark ein Eingriff in die Natur, «aber das EWZ hat sich korrekt verhalten». Im Jahresrhythmus fährt Gunnervall nach Schweden und lädt die Anwohner zum Burger-Essen ein. Es gebe selten kritische Stimmen oder Probleme, sagt Gunnervall.
Sein Haus hat an Wert verloren
Einer, den Gunnervall an den EWZ-Burgeressen nicht mehr hört, ist Tomas Eriksson. Er hat resigniert. Der 45-Jährige wohnt 640 Meter von einer der Zürcher Windturbinen entfernt, das hat er genau ausgemessen. «Ich mag sie nicht», sagt er und schaut zur weissen Turbine auf, die sich hinter den Baumspitzen bei seinem Haus dreht. In der Hand hält er einen Topf mit roter Farbe, mit der er gerade die Fassade streicht. Seine beiden blonden Söhne spielen im Garten Fussball.
Der Schwede, der von Beruf Schweissmaschinen verkauft, hat nichts von diesem Windpark in seinem Hinterhof, der zu 51 Prozent dem EWZ gehört und zum Rest einer Investmentfirma aus Hamburg. Im Winter, wenn das Laub falle, sehe er das ganze Windrad, sagt er. «Und manchmal klingt es, als sei gerade ein Helikopter im Garten gelandet.» Ausserdem habe er nie eine Entschädigung gekriegt, sagt Tomas Eriksson. «Dann könnte ich es vielleicht besser akzeptieren.»
Eriksson eilt jetzt ins Haus und kommt mit einem abgewetzten Ordner zurück. Darin finden sich Dokumente mit Dezibel-Messungen, Zeitungsausschnitte und Schätzungen von Immobilienbüros. Der Ordner ist das, was von Erikssons Widerstand übrig geblieben ist.
Ein Herz-Logo mit der Aufschrift «Hjobygsdens framtid» ziert den Ordner. So hat der Verein geheissen, den er mit anderen Anwohnerinnen gegründet hat. Das Ziel: die Windräder verhindern, mit denen Zürich heute Ökostrom produziert. Ein Artikel aus der lokalen «Hjö Tidnig» zeigt den jüngeren Tomas Eriksson neben anderen Vereinsmitgliedern, die Arme verschränkt. Titel: Die Opposition gegen die Windräder wird stärker. Erreicht hat sie dennoch nichts. Die Windräder wurden gebaut.
«Wann sind wir hierhergezogen?», fragt Tomas Eriksson nun seine Frau, die auf der Terrasse sitzt. 2004 haben die beiden das Grundstück abgelegen in der Natur gekauft und darauf ein rotes Haus gebaut. Wenige Jahre später sei ein Schreiben der Gemeinde Hjö im Briefkasten gelegen, das die Turbinen ankündigte. Eriksson zeigt Schätzungen von drei verschiedenen Immobilienmaklern. Ihre Prognosen decken sich: Durch den Windpark werde der Wert des Hauses um 20 bis 25 Prozent sinken.
Svante Andrén, die in der Gemeinde Hjö die technischen Betriebe leitet, schreibt auf Anfrage: «Neben Kritikern gibt es hier auch viele, die den Windpark in Skalleberg unterstützen.» Schweden sei ein grosses Land mit vielen Wäldern. Da gebe es genug Platz für Windräder.
Der Kampf gegen die Windräder
Als Tomas Eriksson die Windräder bekämpfte, holte er sich auch Hilfe beim «Föreningen Svenskt Landskapsskydd». Dieser Verein mit rund 4000 Mitgliedern hilft Einzelpersonen wie ihm, gegen die Energiekonzerne vorzugehen. Henrik Wachtmeister ist der Vizepräsident. Seit eine Firma hinter seinem Bauernhof Turbinen aufstellen wollte, setzt er sich gegen Windkraft ein. «Schöne Waldlichtungen, auf denen man früher Pilze und Beeren sammeln konnte, werden zerstört», sagt er beim Gespräch über Zoom. «Die Windräder rauben der Natur ihre Schönheit.»
Wenn Firmen ein Windkraftprojekt in Schweden planten, kämen sie in drei Viertel der Fälle durch, sagt Wachtmeister. Die grösste Chance, die Einzelpersonen hätten, sei das Gemeinde-Veto. Wenn er mit Anwohnern «in den Kampf gegen die Windräder zieht», so sagt er es, dann versuchen sie meistens, in den lokalen Parlamenten zu lobbyieren. Wenn diese sich gegen die Windräder aussprechen, dürfen sie nicht gebaut werden. Doch das Veto der Gemeinden wackelt. Der Verband der Schwedischen Windenergie hat der Regierung in Stockholm kürzlich vorgeschlagen, das Recht aufzuweichen. «Es verzögert den Bauprozess der Windparks», schreibt Svensk Vindenergi in seiner «Strategie 2040». Und: «Die Windkraft ist mitten in einer fantastischen Reise.»
Die Windkraft sei in Schweden eine heilige Kuh, sagt Henrik Wachtmeister. Besonders linke Parteien wollten am liebsten überall Windräder stehen haben. Fragt man den Pensionär und Naturschützer, welche Energieformen er denn in Schweden fördern würde, zählt er alle anderen Technologien ausser Wind auf. Doch viel lieber erzählt er von seinem Kampf, von grossen Energiekonzernen, deren Anwälte schlaflose Nächte hätten, weil sein Verein Dezibelmessungen und Berichte über getötete Vögel vorlegt. Gegen 25 Projekte in ganz Schweden kämpft der Föreningen Svenskt Landskapsskydd momentan.
Henrik Wachtmeister sagt, hinter vielen Windparks in Schweden steckten Firmen aus dem Ausland, wie beispielsweise das EWZ. Was Zürich mache, sei egoistisch. Es könne nicht sein, dass Schweizerinnen und Schweizer sagten: «Nein, bei uns wollen wir keine Windräder, aber baut sie doch in Schweden, damit unser Energie-Portfolio schön grün ist und wir ein gutes Gewissen haben.» Das sei Greenwashing.
Das EWZ will noch mehr Windräder
Hans Gunnervall vom Elektrizitätswerk Zürich sieht das etwas anders. Nachdem er alle Turbinen begutachtet hat, fährt er mit dem Tesla zu einem nahen Bauernhof, von dem man den ganzen Windpark überblickt. Autos und Wohnmobile von Touristen stehen vor der Farm. Sie kommen nicht wegen der Windräder, sondern wegen der Bisons, die hier weiden. Im Restaurant bestellt Gunnervall auf Schwedisch und beisst in einen Bison-Burger. «Endlich wieder einmal Fleisch», sagt er. Seine beiden Töchter ernährten sich vegetarisch. «Wegen des Klimawandels.»
Fragt man Gunnervall, weshalb die Zürcher Exil-Windräder kein Greenwashing seien, sagt er: «Weil wir hier tatsächlich grüne Energie produzieren.» Das Stromnetz sei von Tromsö in Norwegen bis in die portugiesische Algarve verbunden. Das sei doch das beste Beispiel, wie Europa funktionieren sollte: Alle Länder sind abhängig und profitieren voneinander. Jeder produziert dort erneuerbaren Strom, wo er die beste Topografie hat. «Die Schweiz hat auch Staumauern gebaut und so Opfer gebracht», sagt Gunnervall. Bedenklich fände er es, wenn Zürich jegliche Energieprojekte ins Ausland verlagern würde. «Aber wir kämpfen ja auch im Jura weiter.»
Gunnervall skizziert seine Vision. Das EWZ wolle weiterhin im schnellen Takt Windkraftwerke im Ausland kaufen. Die 1048 Gigawattstunden, die Zürich momentan mit Windrädern erwirtschaftet, sollen sich bis 2050 mehr als verdoppeln. Das bedeutet aber nicht zwingend zweimal so viele Windräder, denn die Technologie verbessert sich ständig. «Dazu Sonnen- und Wasserkraftwerke», sagt Hans Gunnervall. «Und immer weniger Atomstrom.»
Bevor er sich von Zürich aus wieder auf die Suche nach neuen Windanlagen macht, geht er zurück zu seiner Familie auf die Insel Orust. Mit seiner Frau baut er das Haus um. Am Geburtstag seines Vaters wird die ganze Familie einen Dreimaster mieten und auch auf dem Boot schlafen.
«Etwas muss ich hier aber zuerst noch erledigen», sagt Hans Gunnervall. Bevor er mit dem Tesla losdüst, wird er noch bei zwei Schweden vorbeigehen, denen ein Teil des Landes gehört, auf dem die Zürcher Windräder drehen. Gunnervall trifft sie zum ersten Mal persönlich. Reputationsmanagement. Sie werden Kaffee trinken.